​Lehrerin Anke Steidl - "Auf dem Kreuzweg mit Schulhund Tessa"

Portrait Andreas Moll
von Andreas Moll – 28.08.2015

Anke Steidl gibt auf dem Spaziergang auf der schwäbischen Alb den Ton an – und die Geschwindigkeit. Um ihre Lieblingsrunde gehen zu können, muss sie sich ins Auto setzen, um ins 30 Kilometer entfernte Burladingen zu fahren. Am Fuße der Salmendinger Kapelle gibt es einen Parkplatz, der Ausgangspunkt und Ziel des Spaziergangs ist. Den recht steilen Kreuzweg hinauf zur Wallfahrtskapelle flankieren vierzehn Stationen, an denen man innehalten kann - man muss es aber nicht.

Tessa, der vorwitzige, vierjährige West Highland-Terrier-Dame bleibt beim Marsch hinauf immer in der Nähe seiner Chefin. Immer wieder läuft der kleine weiße Hund einige Meter vorweg, um an der Kurve zu warten, bis er Blickkontakt zu seinem Frauchen hat und dann genussvoll den Weg zur Kapelle hochläuft. Anke Steidl, in Kiel geboren, in Westfalen aufgewachsen, ins Rheinland zum Pädagogik-Studium weitergezogen, verbringt ihr Leben in einem Vorort von Tübingen – als Frau eines Tierarztes, Mutter von drei Kindern und Lehrerin in der Kirschenfeldschule. Insgesamt 160 Schülerinnen und Schüler lernen hier das kleine Einmaleins, schreiben, lesen, die ersten englischen Brocken – und mit einem Hund umzugehen. Klingt komisch, ist aber so. Denn Anke Steidl setzt ihren „Westie“ im Unterricht ein, Tessa ist ein festes Mitglied des Klassenverbandes. „Anfangs brachte ich, damals „nur“ Mutter einer der Kinder der Klasse, unseren damaligen Hund „Theo“ lediglich zu den Schulausflügen mit“, erklärt die Wahlschwäbin. Doch als die gelernte Lehrerin dann wieder in den Schuldienst eintrat, fragte die damals scheidende Kollegin Renate Bader, welche Idee sie mitbrächte, um die Schullust der Kids weiter zu steigern. Des Rätsels Lösung hatte vier Pfoten, war ein äußerst geduldiges Tier, bestens erzogen und freute sich, gemeinsam mit den Kindern am Unterricht teilzunehmen. Zunächst nur auf Probe. Doch war das Experiment von Anfang an so erfolgreich, dass die Lehrerin ihren Hund im kommenden Schuljahr täglich mit in den Unterricht nahm. „Damals gab es einen extrem verhaltensauffälligen Jungen, der regelmäßig Wutanfälle bekam und schnaufend den Klassenraum verließ“, erinnert sich die Lehrerin. „Von der ersten Stunde an „klebten“ Hund und Junge aneinander, und bildeten in Extremsituationen ein Paar, das sich unter dem Schreibtisch versteckte, bis der Wutanfall zu Ende war.“

Mein Frauchen ist für mich der wichtigste Mensch in meinem ganzen Leben, auf den ich mich 100%ig verlassen kann.

Tessa

Westhighland Terrier

Theo verstarb, und Tessa nahm 2010 seinen Platz ein. Zwar war die Hündin extrem kinderlieb, doch kamen bei ihr die Terrier-Eigenschaften wie Eigensinn, sowie Frech- und Wildheit durch, die erst durch ein langfristiges Erziehungsprogramm in den Griff bekommen wurden. „Tessa brauchte Strukturen und eine harte Hand, um zu lernen, welchen Platz sie in einem „Menschenrudel“ einnimmt und wie sie sich hier zu verhalten hat“, erklärt die Lehrerin und demonstriert, dass ihr Hund Platz macht, selbst wenn er sich in 20 Meter Entfernung aufhält.

Die Kinder in ihren Klassen lernen ganz zu Anfang alles Wissenswerte über Hunde, auch wenn sie am 12. September 2015 eine dritte Klasse übernimmt, steht dieses Thema im Sachunterricht an erster Stelle. Gemeinsam wird erarbeitet, woher das Tier stammt, wie man sich einem Hund gegenüber verhält und welche Regeln es im täglichen Schulalltag mit Hund zu beherzigen gilt. Ganz, ganz wichtig ist der Rückzugsort, der für Tessa in der Klasse eingerichtet wurde. Hat der Hund sich hierher verzogen, darf er lediglich gerufen werden, jedoch muss jeder akzeptieren, wenn der „Westie“ verschnaufen will. Es gibt einen Hunde-Pausen-Dienst – jeder Schüler darf abwechselnd mit dem Klassenhund Gassi gehen. Im „Stuhlkreis" herrscht Kontaktsperre, wenn der Hund in der Klasse herumläuft, darf dieser lediglich gestreichelt, jedoch nicht angesprochen werden, und täglich gibt es ein morgendliches Begrüßungsritual. Anke Steidl und Tessa stellen sich dabei vor die Klasse, warten, bis es ruhig ist, Anke Steidl begrüßt die Schüler, und daraufhin werden Hund und Lehrerin lautstark begrüßt. Und diese Zeremonie darf auch auf keinen Fall ausfallen. Denn sollte das einmal aus Stressgründen passieren, legen entweder die Schüler ihr Veto ein, oder aber Tessa wartet so lange vor der Tafel, bis diese schöne Pflicht erledigt wurde. „Bisher“, erzählt die Lehrerin, „ist erst einmal tatsächlich etwas passiert, als Tessa auf einem Klassenausflug nach einem Bienenstich von den Kindern abwechselnd den Berg hinunter zum Bus getragen wurde.“ Allergien der Kinder gegen Hundehaare sind bisher nicht bekannt, und der kinderverrückte Hund genießt es, Mittelpunkt im Klassenverband zu sein. „Tessa geht an vier Arbeitstagen jeden Morgen mit in die Schule. Nur wenn es ihr nachmittags zu viel wird, verweigert sie und genießt die Ruhe im häuslichen Hundekorb.

Gefressen wird zu Hause - das bedeutet, dass keiner dem Hund etwas geben darf. Diese Regel gilt für alle in der Kirschfeldschule - bis auf eine Ausnahme. Denn Tessa weiß, dass Elfriede Schwille, die Rektorin der Grundschule, für sie immer ein Leckerli hat - als Anerkennung für ihre großartige Unterstützung.