Gefährliche Cyanobakterien

Cyanobakterien sind taxonomisch sehr vielfältige prokaryotische Mikroorganismen, welche Photosynthese betreiben¹. Aufgrund ihrer Pigmentierung werden sie im Volksmund häufig auch ‚Blaualgen‘ oder ‚blau-grüne Algen‘ genannt². Dabei sind sie aber keineswegs immer nur bläulich oder grünlich gefärbt, sondern können auch viele weitere Farbschattierungen im gelb-orange-roten Bereich aufweisen. Als sehr widerstandsfähige Organismen gedeihen Cyanobakterien auch unter harschen Umweltbedingungen und sind weltweit fast überall zu finden. Bei guten Wachstumsbedingungen bilden sie dichte rasenartige Wucherungen, welche sich häufig auf der Wasseroberfläche sammeln. Diese sog. Wasserblüten reichern sich vor allem in stehendem Süß- oder Brackwasser oder entlang küstennaher Meeresregionen an. Problematisch an Cyanobakterien ist, dass gewisse Arten bioaktive Verbindungen produzieren, welche für Mensch als auch Tier toxisch sind¹ . Diese sog. Cyanotoxine entfalten unterschiedlichste Wirkungen und können hepatotoxisch, neurotoxisch wie auch genotoxisch und möglicherweise tumorpromovierend wirken. Zu den Hepatotoxinen gehören die Mikrozystine und Nodularine, während Anatoxin-a, Anatoxin-a(s) und Saxitoxine klassische Neurotoxine darstellen. Die folgenden drei Fallbeispiele sollen die Wirkungen einiger dieser Cyanotoxine aufzeigen.

Fallbeispiel: Vergiftungen von Rindern auf Alpweiden durch hepatotoxische Cyanobakterien

Zwischen 1980 und 2000 traten über ca. 20 Jahre insgesamt etwa 100 nicht erklärbare Todesfälle bei Rindern auf Schweizer Alpweiden auf³. Betroffen waren 12 sehr hoch gelegene Alpweiden, wobei die Fälle eine charakteristische Häufung in den Monaten August und September, zumeist nach warmen und niederschlagsarmen Schönwetterperioden aufwiesen. Wenn sie nicht bereits tot aufgefunden wurden, zeigten die Tiere Unruhe, Tremor, Ataxie, Krämpfe, Kolik und Festliegen, und der Tod trat innert Minuten bis wenige Stunden nach den ersten Symptomen ein. Histopathologisch konnten massive hämorrhagische Koagulationsnekrosen der Leber mit teils vollständiger Zerstörung der Gewebsarchitektur und massiven Parenchymblutungen dargestellt werden. Diese typischen morphologischen Veränderungen, in Kombination mit dem Ausschluss weiterer möglicher Ursachen für gehäufte Todesfälle beim Rind, führte zum Verdacht einer Vergiftung durch hepatotoxische Cyanobakterien. Tatsächlich konnte dann das Hepatotoxin Mikrozystin in Wasser- und Algenproben nachgewiesen werden.

Mikrozystine bestehen aus sieben zyklisch angeordneten Aminosäuren und sind äußerst stabil4. Nach oraler Aufnahme werden sie vorwiegend via Transporter‚ Organic Anion Transporting Polypeptide‘ (OATP) in Leberzellen aufgenommen. Mechanistisch betrachtet, wirken Mikrozystine als Protein-Phosphatase-Hemmer: sie inhibieren Enzyme, welche die Abspaltung kovalent gebundener Phosphatreste von Proteinen katalysieren. Die resultierende irreversible Hyperphosphorylierung zytoskelettaler Proteine in den betroffenen Zellen führt zur raschen Auflösung des Zytoskeletts und zu einem kompletten Kollaps der Zelle. Betroffene Zellen dissoziieren von den umliegenden Gewebsstrukturen, woraufhin Erythrozyten in die freien Räume eindringen, was schließlich zum histologischen Bild einer akuten hämorrhagischen Lebernekrose führ¹.

Aufgrund dessen, dass ein steigender atmosphärischer CO2-Gehalt, höhere Temperaturen und eine zunehmende Eutrophierung von Oberflächengewässern sich begünstigend auf das Cyanobakterien-Wachstum auswirken, ist von einer zukünftigen Zunahme solcher Vergiftungsfälle in Mitteleuropa auszugehen."

Prof. Dr. Dr. Enni Markkanen, Zürich

Fallbeispiel: Vergiftungen von badenden Hunden durch neurotoxische Cyanobakterien

In den letzten Jahren haben sich in mehreren Regionen der Schweiz Fälle von Hunden, welche kurz nach dem baden oder spielen in Seen plötzlich Vomitus, Diarrhoe, Zittern, Speicheln, zentrale Krampfanfälle, Dyspnoe und teilweise eine Zyanose der Maulschleimhaut zeigten. Der Tod trat meist innerhalb weniger Minuten bis Stunden durch Atemstillstand ein. So sind zum Beispiel im Juli 2020 sechs Hunde nach einem Bad im Neuenburger See verstorben. Ebenfalls starben im Juli 2021 fünf Hunde nach einem Bad im Obersee. Dabei fiel den Hundebesitzer:innen eine rote Verfärbung des Wassers an der Badestelle auf, welche auf die massive Vermehrung der sog. Burgunderblutalge zurückzuführen war. Ein sehr aktueller Fall von Mai 2022 betrifft zwei Hunde, welche nach einem Bad im Greifensee nahe Zürich ebenfalls durch eine Vergiftung mit neurotoxischen Cyanobakterien verendeten. Speziell hervorzuheben ist hierbei das jahreszeitlich enorm frühe Auftreten der Blaualgen, welches auch die Behörden überraschte und möglicherweise durch eine vorhergehende Schönwetterperiode getriggert wurde.

All diesen Fällen lag eine Vergiftung mit Anatoxinen, schnell wirkende neurotoxische Alkaloide, zugrunde. Anatoxin-a verdrängt Acetylcholin von seiner Bindungsstelle am Acetylcholin-Rezeptor an der neuromuskulären Synapse. Rezeptor-gebundene Anatoxine können durch die Acetylcholinesterase nicht gespalten werden, was zu einer kontinuierlichen neuronalen Depolarisation führt. Zunächst dominieren fibrilläre Zuckungen und Krämpfe, gefolgt von einer Paralyse, welche schlussendlich zum Atemstillstand führt⁴. Als natürliches Organophosphat ist Anatoxin-a(S) ein potenter Acetylcholinesterase-Inhibitor und wirkt parasympathomimetisch. Daraus resultieren (Hyper-) Salivation (daher das Suffix ‘S’), Tränenfluss und Depolarisation der neuromuskulären Endplatte, was wiederum zum Tod durch Atemlähmung führt.

Fallbeispiel: tödliche vakuoläre Myelinopathie beim Weißkopf-Seeadler

1994 wurde im Südosten den Vereinigten Staaten erstmals das Phänomen einer tödlichen vakuolären Myelinopathie (VM) beim Weißkopf-Seeadler beschrieben. Die Krankheit breitete sich in den darauffolgenden Jahren großflächig aus und betraf neben Vögeln auch Amphibien, Reptilien und Fische. Über 25 Jahre blieb die Ursache dieser Erkrankung, welche die Bestände des amerikanischen Wappentieres massiv bedrohte, unklar.

2021 gelang der Durchbruch mit der Entdeckung einer neuartigen Cyanobakterien-Spezies, welche auf einer invasiven Unterwasserpflanze wächst und ein neuartiges Neurotoxin, das sog. Aetokthonotoxin (AETX) produziert. AETX bedeutet soviel wie «Gift, das Adler tötet». Betroffene Tiere, wie z.B. Fische und Blässhühner, ernähren sich von dieser Pflanze und nehmen dadurch das Toxin auf. Die resultierende VM bei diesen Tieren macht sie zu sehr leichten Opfern von Raubvögeln. Durch Verzehr der vergifteten Beutetiere nimmt der Adler das Toxin auf und verendet dann infolge dessen ebenfalls an einer VM. Interessant ist, dass die Struktur von AETX 5 Bromid-Resten beinhaltet. Das bedeutet, dass für die Produktion von AETX Bromid vorhanden sein muss, welches aus geologischen Quellen stammen kann, aber häufig auch auf anthropogene Einträge, beispielsweise durch Fungizide, Herbizide oder Benzin-Additive zurückzuführen ist⁵ . Dies ist ein beeindruckendes Beispiel eines höchst komplexen Zusammenspiels verschiedener Umweltfaktoren, welches im Auftreten neuartiger Vergiftungsfälle resultiert.

Diagnose, Therapie und Prophylaxe

Diagnostisch kann aufgrund der Observation von Wasserblüten in betroffenen Gewässern in Kombination mit der Symptomatik bereits eine begründete Verdachtsdiagnose erreicht werden. Mittels Nachweis von Toxin in Algen, Wasserproben oder dem Mageninhalt betroffener Patienten kann diese bestätigt werden. Aus Mangel an Toxin-spezifischen Antidoten ist die Therapie symptomatisch ausgelegt: Dekontamination (Expositionsstopp, wiederholte Verabreichung von Aktivkohle, ev. Cholestyramin bei Mikrozystinen) kombiniert mit symptomatisch unterstützenden Maßnahmen (intravenöse Flüssigkeitstherapie, Beatmung, etc.). Bei Mikrozystinen können möglicherweise S-Adenosyl methionine und N-Acetylcystein die zellulären biochemischen Entgiftungsreaktionen begünstigen. Durch Anatoxine hervorgerufene cholinerge Symptome können durch Atropinsulfat antagonisiert werden. Die Prophylaxe nimmt einen großen Stellenwert ein – Aufklärung der Tierbesitzer:innen und die Expositionsprophylaxe sind hierbei die Grundpfeiler.

Fazit

Aufgrund dessen, dass ein steigender atmosphärischer CO2-Gehalt, höhere Temperaturen und eine zunehmende Eutrophierung von Oberflächengewässern sich begünstigend auf das Cyanobakterien-Wachstum auswirken, ist von einer zukünftigen Zunahme solcher Vergiftungsfälle in Mitteleuropa auszugehen.

Literatur

1. Whitton, B. A. Ecology of Cyanobacteria II: Their Diversity in Space and Time. (Springer Netherlands, 2012).

2. Huisman, J. et al. Cyanobacterial blooms. Nature Reviews Microbiology vol. 16 471–483 Preprint at https://doi.org/10.1038/s41579... (2018).

3. Naegeli, H. et al. [Sudden death of Alpine cattle in the canton Graubünden]. Schweiz Arch Tierheilkd 139, 201–9 (1997).

4. van Apeldoorn, M. E., van Egmond, H. P., Speijers, G. J. A. & Bakker, G. J. I. Toxins of cyanobacteria. Molecular Nutrition and Food Research vol. 51 7–60 Preprint at https://doi.org/10.1002/mnfr.2... (2007).

5. Breinlinger, S. et al. Hunting the eagle killer: A cyanobacterial neurotoxin causes vacuolar myelinopathy. Science (1979) 371, (2021).