Biologische Entwicklungsprozesse beim Hund

Eine tierisch große Liebe: Hunde sind heute Familienmitglieder, die ganz selbstverständlich mit uns zusammenleben. Für die Tiere bedeutet das eine große Anpassung. Sie müssen als Freund vom Menschen viel leisten. Damit das funktioniert und die Beziehung zwischen Menschen und Hund ein sicheres Fundament bekommt, sollten Menschen die biologischen Entwicklungsprozesse ihres Hundes verstehen.

Mit welchen Bedürfnissen kommt ein Hund ins Haus? Welches genetische Gepäck bringt er mit? Das hängt stark von der Rasse und natürlich dem Alter ab. Zieht ein kleiner Welpe ein, ist das Gepäck noch ziemlich klein. Trotzdem treten viele Erziehungsprobleme schon im Welpenalter auf. Ein Grund dafür ist, dass der Mensch gerade kleinen Hundekindern in der Regel viel Aufmerksamkeit schenkt. Dadurch lernt der Welpe, dass wir ihn achten – nicht umgekehrt. Ein Verhalten, das nicht der Natur entspricht: In der Hundewelt orientieren sich die Babys immer an der Hundemutter.

Und anders als viele Menschen haben Hunde ein untrügliches Gespür für solche sozialen Strukturen. Sich diesen anzupassen, ist im Rudel überlebenswichtig. Gleichzeitig hat aus Sicht eines Hundes jeder Hund einen natürlichen Anspruch auf Führung. Marion Terhaar, Expertin für Hundeverhalten, erklärt: "In der Hundewelt lernen Hunde von erfahrenen Artgenossen, wie das Leben funktioniert. Zudem trachten Hunde genauso wie wir Menschen danach, selbstbestimmt zu leben. Damit sie sich von uns führen lassen, ist es essenziell, dass wir das Hundesein verstehen“. Denn nur, wenn der Mensch durch sein Verhalten seinen Führungsanspruch glaubhaft vermittelt, kann der Hund in Harmonie mit ihm leben. Dabei ist es hilfreich für Hundehalter, die Schritte zu verstehen, die ein Hund in seiner biologischen Entwicklung durchläuft. Das Wissen um die Entwicklungsprozesse gibt Hundehaltern die notwendigen Kompetenzen, artgerecht mit ihrem Hund zu kommunizieren und eine echte Partnerschaft aufzubauen, die dem Hund Sicherheit vermittelt.

Der Instinkt besiegt die Erziehung

Aber wie sieht man die Welt durch die Augen des Hundes? Marion Terhaar erklärt: „Auch, wenn es für viele Hundehalter:innen seltsam klingt - ein Hund, der nicht auf den eigenen Vorteil bedacht ist, hat in der Natur keine Überlebenschance. Sich durchzusetzen, ist also ganz tief im Inneren aller Hunde verankert.“ In den ersten Wochen nach der Geburt geht es für den Welpen nur um eines: um Futter. Blind und taub geboren, muss der Welpe darum kämpfen, immer wieder den Weg zu den Zitzen der Mutter zu finden. Wer hier höflich oder bescheiden auftritt, um seinen Geschwistern den Vortritt zu lassen, verliert. Auch hilflose kleine Welpen sind also schon echte Kämpfer. Werden die Welpen größer, werden sie mit fester Nahrung zugefüttert. Ungebremst stürzen sie sich auch auf das Futter des Muttertieres. "Doch diese weist sie immer mal wieder in die Schranken und beißt sie, ohne zu verletzen, vom Napf weg", sagt die Expertin. Trotzdem versuchen die Welpen immer wieder, etwas zu ergattern. Schon hier zeigt sich, dass Hunde durch ihr genetisches Programm eigentlich erziehungsresistent sind. Der Überlebenswille ist stärker als anerzogene Manieren: Im Zweifelsfall folgen Hunde, dabei besonders Welpen, ihren Instinkten und nicht ihrer Erziehung. Viel Futter zu bekommen, trainiert die Fitness eines Welpen und in der Folge beansprucht dieser für sich einen hohen Status in der sozialen Gruppe.

Welpen werden versorgt, Junghunde werden erzogen und pubertierende Hunde werden geführt.“

Marion Terhaar, Expertin für Hundeverhalten

Der Rang in der Gruppe muss klar definiert sein.

Die erwachsenen Hunde sorgen dafür, dass im Rudel alle überleben können und soziale Strukturen eingehalten werden. In der Natur hat das Jungtier den untersten Rang, denn es muss erst lernen, sich anzupassen. Genauso müssen Hundebabys lernen, sich nach den Menschen zu richten, wenn sie mit diesen in einer Familie leben. Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihren Erziehungsauftrag umzusetzen und anzunehmen, sollten ihrem Hund zuliebe bedenken, dass Führung und Autorität im Tierreich nicht negativ besetzt ist. Ein Hund, der keine klaren Regeln und Konsequenzen erfährt, ist überfordert sowie verwirrt und wird schlimmstenfalls eigene Entscheidungen treffen, die im Leben mit Menschen unerwünscht sind.

Welpen haben ein Bedürfnis nach Ruhe und Geborgenheit

Hunde sind Nesthocker, die genetisch darauf programmiert sind, die ersten Monate ihres Lebens in ihrem sicheren Umfeld zu bleiben, um sich in diesem zu sozialisieren. Diesem natürlichen, von der Natur vorbestimmten Entwicklungsprozess, wie auch dem Bedürfnis des Welpen nach Ruhe und Geborgenheit sollten Hundehalter:innen entgegenkommen, damit der Hund ein stabiles Wesen entwickeln kann. Spätestens mit etwa fünf Monaten entwickeln die Junghunde dann ganz von selbst den starken Wunsch, das gewohnte Umfeld zu verlassen, denn in der Natur erlernen sie in diesem Alter von der Mutter das Jagen - allerdings durch Nachahmung, nicht durch Belohnung. Diese Phase ist die wohl wichtigste und effektivste Zeit für Erziehungsarbeit, denn mit dem Eintritt der Pubertät, entwickeln die Hunde ein noch größeres Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Selbstdarstellung, das sie in der Natur darauf vorbereitet, das Rudel zu verlassen.

Hunde brauchen also in jeder Entwicklungsphase klare Orientierung durch ihre Halter:innen. Die Anpassung an die soziale Gruppe ist für sie überlebenswichtig - das macht Hunde zu so treuen Begleitern. Diese Anpassung gelingt Hunden im ersten Schritt allerdings nicht durch das Befolgen von zu früh erlernten Kommandos mithilfe von Leckerlis, denn in der Natur gibt es dieses Belohnungssystem nicht. Natürlich ist es möglich, ein Tier mit Belohnungen zu konditionieren, eine echte Bindung entsteht aber nur, wenn wir Menschen die Bedürfnisse des Hundes verstehen und eine klare, artgerechte und für Hunde verständliche Linie in seine Erziehung bringen.

Hunde brauchen in jeder Entwicklungsphase klare Orientierung durch ihre Halter:innen. Die Anpassung an die soziale Gruppe ist für sie überlebenswichtig - das macht Hunde zu so treuen Begleitern."

Marion Terhaar, Expertin für Hundeverhalten

Die biologischen Entwicklungsphasen im Überblick:

Neonatale Phase (0. – 2. Wochen): In der neonatalen Phase geht es ums pure Überleben. Die Welpen sind noch blind und taub und „rudern“ über den Boden. Was funktioniert, ist der Geruch: Die Hundebabys riechen die Zitzen der Mutter. Sie sind sehr darauf bedacht, in Körperkontakt zu liegen und brauchen die Nähe der Geschwister. Trotzdem kämpft jeder Welpe für sich.

Übergangsphase (2. - 4. Woche): Die Übergangsphase ist der Übergang von der neonatalen Phase zur Sozialisierungsphase. Jetzt sind die Augen und Ohren der Welpen offen. Sie bellen ab und zu, kuscheln viel, trinken und schlafen.

Sozialisierungsphase (4./5. – 16. Woche): Die Welpen erlernen soziales Verhalten von den Wurfgeschwistern und der Mutter. Keiner kann ein Welpe besser sozialisieren als ein Hund. Denn nur im Hundekontakt lernen sie, sich innerartlich sozial zu verhalten. Und nur ein gut sozialisierter Welpe kann sich in der Menschenwelt sozial verhalten.