Antje Hebel - "Vom aggressiven Straßenhund zum Seelenhund"

„Hallo Frau Hebel, bitte helfen Sie mir! Ich habe seit sechs Monaten meinen "Mexx" aus Kreta bei mir. Aber mittlerweile weiß ich mir keinen Rat mehr. Zwei Hundetrainer haben bereits aufgegeben, was soll ich nur tun?“ So oder ähnlich beginnen die meisten Telefonate oder Emails meiner Kunden. Diese Menschen haben es gut gemeint, wollten einem Hund helfen, um sein Leid zu verringern und stoßen plötzlich an ihre Grenzen. Angela, Mexx’ Besitzerin, musste diese Erfahrung auch machen. Straßenhunde sind oft anders als unsere Haushunde. Bei manchen funktioniert die Eingewöhnung reibungslos. Andere brauchen mehrere Monate, bis sie wirklich angekommen sind, Vertrauen fassen und sich im neuen Alltag zurechtfinden.

Mexx kam in Deutschland gar nicht klar.

Mexx aus Kreta war einer dieser Hunde. Wir kennen seine Vorgeschichte nicht - er war ein Fundhund. Ohne Anhang, ohne Identität. Er hat wohl das volle Programm abbekommen; Einsamkeit, Angst und Hunger. Vielleicht hat er sogar in frühester Kindheit seine Mutter verloren - das wiegt doppelt so schwer. Zu diesem miserablen Lebensbeginn kam dann noch der große Einschnitt beim Umzug nach Deutschland. Anderes Klima, neue Gesichter, fremde Geräusche und Gerüche. Alles war anders. Plötzlich war ausreichend Futter vorhanden, er war nicht mehr im Zwinger, wurde nicht mehr getreten oder mit Steinen beschmissen. Aber ein anderes Problem tat sich auf: Menschen! Sie alle kamen viel zu nahe an ihn heran.

Jeder denkt jetzt: „Na, ist doch super!“ Gute Menschen haben ihn aufgelesen. Und er kam ins Paradies nach Deutschland, wo seine Besitzerin, alles für ihn getan hat. Denn außer Futter und Spaziergänge bekam Mexx das erste mal im Leben auch Streicheleinheiten und Zuwendung. Warum war das ein Problem für ihn?

Mexx kämpfte gegen alles und jeden - aus Angst.

Wenn Hunde darauf konditioniert sind, dass sie alleine und ohne Schutz durchs Leben gehen, und dass sie sich vor Artgenossen und vor allem vor den Menschen in Acht nehmen müssen, dann können sie das nicht innerhalb weniger Wochen wieder ablegen. Oft ist diese Erfahrung tief in ihre Seelen eingebrannt. Genau das war wohl Mexx’ Problem. Er witterte hinter jedem positiven Versuch der Annäherung eine unbekannte Gefahr. Er reagierte sehr skeptisch und hat seine liebevolle Besitzerin auch gebissen. Denn in Kreta auf der Straße kannte er nur ein Gesetz: Überleben - koste es, was es wolle! Nur der Starke, Clevere und Mutige kommt durch.

Straßenhunde sind sehr viel intensiver in ihren Emotionen und Reaktionen. Ihre Triebe und Instinkte sind unverfälscht und sehr ausgeprägt. Manche rennen schreiend davon. Andere beißen zu, um sich selbst zu schützen. Eine Beißhemmung wäre ihr sicherer Tod.

Sein Leben bestand aus beißen und pöbeln.

In Mexx fanden wir all diese Tragödien vereint. Er hat damals unkontrolliert um sich gebissen und benahm sich wie ein wildes Tier. Das plötzliche Leben in geschlossenen Räumen verursachte ihm Panik. Er sah keinen Fluchtweg, im Falle einer Gefahr. Er wusste ja nicht, dass er nie wieder einer Gefahr ausgesetzt sein wird. Mexx war verstört, fand keinen Schlaf und machte Randale. Drinnen im Haus attackierte er nicht nur Angela, sondern auch ihren 10-jährigen Mischlingshund "Benni" völlig grundlos. Draußen beim Spaziergang attackierte er sogar Menschen, er stellte und verbellte sie. Jeder andere Besitzer hätte diesen Hund zurückgegeben. Nicht Angela. Sie konnte sein goldenes Herz sehen und kontaktierte mich.

Verständnis und Toleranz sind es, was (Problem-) Hunde brauchen, damit sie uns ihre Herzen öffnen."

Antje Hebel, international bekannte Hundeexpertin

Mexx musste ins Kloster!

Das erste, was Mexx jetzt brauchte, war, ein tiefes Urvertrauen in sein neues Umfeld aufzubauen und bei Angst ruhig zu bleiben. Er bekam ein total reizarmes Leben auferlegt. Bei uns Menschen nennen wir es „Schweigeseminar“. Für Mexx, Angela und Benni hieß das: kein TV, kein Radio, kein Besuch, keine Kommunikation, keine Action. Angela hat ihn ignoriert, Bücher gelesen, und ihre sozialen Kontakte nur am Handy gepflegt – alles schweigend. Das Laufen mit Halsband und Leine wurde im Spiel neu aufgebaut, drinnen in der Wohnung. Täglich ein paar Minuten mehr. Damit wurde Mexx auch bei den Spaziergängen immer ruhiger.  

Viele Straßenhunde haben Probleme mit der Leinenführung. Sie wehren sich, pöbeln, beißen in die Leine. Kein Wunder. Sie werden oft mit Schlinge eingefangen und mitgezogen. Das löst Todesängste aus, die sie nur schwer vergessen können. Deswegen kann sich die Leinenführung oft als Problem erweisen. Ein Brustgeschirr, also die Vermeidung der Stress-Situation, hätte nicht weitergeholfen. Wichtig war die Desensibilisierung des Hals- und Nackenbereiches, damit Angela ihn irgendwann überall am Körper berühren konnte, ohne dass Mexx jedes Mal ausflippt.

Danach folgten gezielte Übungen.

Mexx wurde tatsächlich ruhiger, und nach ein paar Wochen konnte Angela mit beruhigenden Massagen und Konzentrationstraining beginnen. Die üblichen „Sitz“- und „Platz“-Übungen sind bei traumatisierten Hunden nicht angebracht. Denn diesen Hunden fehlt die Fokussierung. Sie hören nicht zu und sind auch sonst irgendwie nicht im Hier und Jetzt. Die Hunde sind nervlich viel zu verspannt, als dass sie auf ihre Menschen achten könnten. Oft schauen sie nur in der Gegend herum und sind „kampfbereit“, sollte sich plötzlich eine Gefahr auftun.

Die Spaziergänge fanden nicht mehr im Wohngebiet statt. Angela fuhr mit ihren Hunden stattdessen in den Wald, um ungestört zu sein. Benni schnupperte herum, während Mexx über Baumstämme unter Ästen und im unebenen Dickicht geführt wurde. Er musste über Gräben springen und auf Baumstümpfen stehen. Dazu kamen bald diverse Balance-Übungen, die je nach Umgebung in die Spaziergänge eingebaut wurden. Alles erfolgte immer noch schweigend. Angela musste in Mexx’ Sprache kommunizieren und ihm vormachen, was sie erwartete, statt es von ihm zu verlangen. Sie musste also mit unter die Äste kriechen! Das waren keine geselligen Spaziergänge, es war harte Arbeit.

Aber irgendwann spürte sie, dass Mexx sich entspannte und sich im Gelände immer mehr an ihr orientierte. Bald benutzte sie reflexartig kurze Worte wie „hopp“ oder „durch“ um ihn zu leiten. Angela waren diese Begriffe aus dem Agility-Sport mit Benni gut geläufig. Es funktionierte, Mexx wurde immer besser. Super! Nun mussten wir nur noch den Stresslevel bei Begegnungen mit Artgenossen und anderen Menschen herabsenken. Das erfolgte, indem wir Mexx’ überschüssige Energie mit stressreduzierenden Übungen in eine positive Richtung führten. Das war sein Durchbruch.

FAZIT

Aus dem wilden Tier wurde ein Seelenhund. Heute ist Mexx ein begeisterter Agility-Hund, der sogar Pokale gewinnt. Er ist ein aufmerksamer, freundlicher Familienhund geworden. Angela sagt: „Das hätte ich mir niemals träumen lassen. Er ist mein Seelenhund geworden. Keine Ahnung, wie er das geschafft hat.“ Die Skepsis vor fremden Menschen ist zwar weiterhin vorhanden, jedocH beißt Mexx nicht mehr, sondern entzieht sich der Situation. Er will nicht von fremden Menschen angefasst werden, und das muss er auch nicht. Jedes Lebewesen hat ein Recht auf Individual-Distanz. Respektieren wir das doch einfach, statt es ändern zu wollen. Denn Verständnis und Toleranz sind es, was (Problem-) Hunde brauchen, damit sie uns ihre Herzen öffnen.