Mobilitätstraining für Schwergewichte, Hibbelhunde, Senioren & Hunde mit Einschränkungen
Was tun, wenn man einem 2 ½ jährigen Herdenschutzmix mit 50 Kilogramm Lebendgewicht aus dem spanischen Tierschutz gegenüber steht, der keinerlei Erfahrungen im Alltag hat, weil er nichts kennenlernen durfte? Gustav war offensichtlich mit Aggression begegnet worden, so reagierte er auf die gleiche Weise. Er zeigte sich unsicher und leider nach der Devise “Angriff ist die beste Verteidigung.“ Gustav stoppte alles, was sich bewegte und machte weder vor Menschen noch vor anderen Hunden halt. Dabei setzte er sowohl seine ganze Kraft, sein Gebell und auch seine Zähne ein. Dennoch konnte ich während des Kennenlernens mit diversen Tests auch feststellen, dass es ihm an Selbstbewusstsein und Souveränität fehlt. Gustav war keineswegs böse, er hatte nur keine Handlungsalternative. Eine Kombination, auf die ich im Rahmen meiner Trainings oft treffe.
Unsere Aufgabe war klar umrissen: Gustav sollte stressfrei in den Alltag von Christine und Uwe integriert werden. Zunächst einmal mussten alle verstehen, dass Gustav mit Mitleid nicht geholfen ist. Gustav war zu Beginn sehr ernst und durchaus bereit, Mensch und Hund zu verletzen. Christine und Uwe haben zunächst sehr erschrocken auf meine Einschätzung reagiert, sich aber dann mit Feuereifer und voller Vertrauen auf meinen Trainingsweg eingelassen.
1. Schritt: Gustav musste lernen, Grenzen zu akzeptieren.
Bislang hatte ihn niemand gebremst und er hatte alles selbst entschieden. Mit der Einführung von Regeln übernimmt der Mensch Verantwortung und entlastet seinen Hund. Gerade für den unsicheren Hund ein entscheidender Schritt. Mit den ersten Übungen haben wir daher zunächst einmal eine ruhige Liegestelle für ihn eingerichtet. Vorher lag er gern im Flur, an den Türen und war daher in ständiger Bereitschaft auf alles und jeden zu reagieren. Gleichzeitig wurde die Leinenorientierung in Angriff genommen. Zu Beginn war Gustav nicht zu bremsen, mit voller Kraft voraus suchte er die Flucht nach vorne auf seine “Gegner“. Bereits nach kurzer Zeit und konsequentem Training konnten wir Fortschritte verzeichnen. Gustav orientierte sich mehr und mehr an seinen Menschen. Besucher kamen und gingen, Gustav blieb auf seinem Platz und wurde zunehmend entspannter. Die Leine beim Spaziergang war nicht mehr auf Spannung, Gustav lief immer lockerer.
2. Schritt: Gustav sollte aus der Hand und dem Futterbeutel gefüttert werden.
Als Herdenschutzmix ist Gustav kein typischer Apportierhund und so war viel Geduld gefragt, aber auch hier ließen sich Christine und Uwe nicht entmutigen. Im Ergebnis war sich Gustav im Klaren, dass Frauchen und Herrchen immer etwas Gutes in der Tasche haben und es sich lohnt, auf deren Übungsvorschläge einzugehen. Eine intensivere Auslastung durch das Apportieren kam dennoch nicht infrage, denn es stellte ihn nicht zufrieden.
3. Schritt: Mobilitätstraining
Bislang wurde mit Gustav relativ reizarm trainiert. Christine und Uwe hatten in abgelegenen Gegenden geübt. Andere Hunde, Menschen und weitere Ablenkungen waren noch nicht im Spiel. Jetzt sollte Gustav lernen, dass auch andere Hunde sich bewegen dürfen und er mit weiteren Ablenkungen wie z.B. Autos und Radfahrer in der Umgebung klar kommen muss. Die Idee, ihn in mein Mobilitätstraining zu integrieren lag da sehr nahe.
Das Mobilitätstraining hat sich für mich völlig unerwartet zu einer Herzensangelegenheit entwickelt. Es bietet die Möglichkeit, mit körperlich eingeschränkten oder älteren Hunden und eben auch mit Hunden, die unter Hyperaktivität und Aggression leiden, sinnvoll und schonend zu arbeiten."
Was ist Mobilitätstraining?
Einfach dargestellt, ist das Mobilitätstraining eine Art Gymnastik für Hunde. Mit ruhigen Übungen werden Koordination, Konzentration und Körpergefühl aufgebaut und Unsicherheiten abgebaut. In den Pausen wird massiert oder einfach auch nur mal gekuschelt und gestreichelt. Da alles mit der Führung ihrer Menschen abläuft, kann man zusehen, wie von Stunde zu Stunde die Bindung und das Vertrauen zwischen Hund und Mensch wächst. Der Parcours besteht aus verschiedenen Balancier- und Klettergeräten, Pfotenstraßen mit verschiedenen Belägen und Gymnastikübungen. Die Teams bewegen sich ohne feste Reihenfolge durch die Hindernisse. Hunde werden an lockerer Leine geführt und konzentrieren sich auf die jeweilige Aufgabe. Dabei begegnen sich die Teams natürlich regelmäßig an verschiedenen Stellen und die Hunde arbeiten trotz Sichtkontakt untereinander mit ihren Menschen. Nebenbei bemerkt, das ist ein aktives Kommunikationstraining. Nicht immer müssen Hunde ihre Nasen zusammenstecken oder “spielen“, was aus meiner Sicht allzu oft in Rüpeleien ausartet. Auch ein ruhiges Nebeneinanderherlaufen – und/oder Arbeiten beinhaltet eine Menge Kommunikationsaspekte.
Beim Mobilitätstraining übernehmen die Menschen Führung: Natürlich gibt es auch mal ein Leckerli, aber die Aufgabe für den Menschen besteht in der Anleitung ihrer Hunde. Keinesfalls soll der Hund einem Leckerli hinterherlaufen, denn dann würde er sich nicht auf sein Hindernis konzentrieren. Über geduldiges Zeigen und langsames Herantasten lernt der Hund, welches Verhalten an jedem Hindernis gewünscht ist. Vertrauen in den Mensch ist die Grundlage für Fortschritte.
Es ist immer wieder auch für mich ein ganz besonderer Moment, wenn ein Hund das erste Mal eine Übung meistert, die ihn erkennbare Überwindung gekostet hat und sich dabei auf seinen Menschen konzentriert. Dabei kann es sehr unterschiedlich sein, was für den Hund schwierig ist. Traut sich ein Hund nicht auf das Balancekissen, reichen zunächst Berührungen mit der Pfote. Bei dem Mobilitätstraining geht es nie um Schnelligkeit, sondern immer um die saubere und ruhige Ausführung. Da kann es schon einmal ein bisschen länger dauern. Man erkennt Stolz und Freude in den Gesichtern von Mensch und Hund, wenn es klappt. Die gleichzeitige Anwesenheit der anderen Hunde im Parcours ist eine entscheidende, weitere Herausforderung. Die anderen Hunde werden wahrgenommen und dennoch bleibt die Konzentration bei der Übung. Sich den Situationen zu stellen und dennoch seine Aufgabe zu Ende zu bringen, kann dazu führen, dass andere Hunde nicht mehr als Bedrohung empfunden werden. So ganz nebenbei entwickelt sich ein ruhiger und gelassener Umgang mit Herausforderungen aller Art.
Im Rahmen des Trainings erhalten meine Teams viele Anregungen, mit welchen Übungen der tägliche Spaziergang interessant gestaltet werden kann oder wie mit einfachen Mitteln die unmittelbare Umgebung zu einem abwechslungsreichen Übungsfeld gestaltet wird.
Zurück zu Gustav:
Die ersten beiden Stunden im Mobilitätstraining waren schwierig, Gustav bellte schon beim Aussteigen das ganze Trainingsgelände zusammen und war kaum zu halten. Also mussten wir zunächst mit etwas mehr Abstand arbeiten, um ihn langsam vorzubereiten. Das klappte, und Gustav ließ sich mehr und mehr auf den Parcours ein. Es kam schnell die erste Stunde, in der Gustav völlig entspannt “seine“ Hindernisse absolvierte, ohne sich um die anderen Hunde zu kümmern. Wie sieht der Alltag heute aus? Christine ist aktive Reiterin und wird von Uwe und natürlich auch von Gustav regelmäßig auf den Turnieren begleitet. Probleme: Fehlanzeige - die meiste Zeit verschläft Gustav. Er hat seine Chance genutzt und sich zu einem Vorzeigehund entwickelt. Ohne den unermüdlichen Einsatz und die unendliche Geduld von Christine und Uwe wäre das nicht möglich gewesen. Vor einiger Zeit ist Goldie, ein Kangal-Mix aus dem Tierschutz, eingezogen. Die Aufnahme eines zweiten Hundes, der nun ebenfalls seine Chance bekommt, wäre ohne das Training mit Gustav nicht möglich gewesen.
Das Mobilitätstraining hat sich für mich völlig unerwartet zu einer Herzensangelegenheit entwickelt. Es bietet die Möglichkeit mit körperlich eingeschränkten oder älteren Hunden und eben auch mit Hunden, die unter Hyperaktivität und Aggression leiden, sinnvoll und schonend zu arbeiten. In einer Zeit, in der es viel zu oft um “höher, schneller, besser, weiter“ geht, sollte es auch einen Platz geben, in der Ruhe und Gelassenheit trainiert wird, denn das wird doch schließlich von den Hunden im Alltag erwartet.