Der emotionale Zustand der Patienten in der Tierarztpraxis

„Fear is the enemy of learning, it’s the negator of joy, the preventer of play, the inhibitor of trust and love. Fear just gets in the way, slows things down und causes unnecessary pain.“ (Karen Pryor)

Für Hunde und Katzen kann ein Tierarztbesuch etwas unangenehm bis schlichtweg nicht zu bewältigen sein. Für die einen Tiere sind Stress und Angst bereits auf dem Parkplatz vor der Praxis fast unerträglich, während andere bei unangenehmen Manipulationen nur leichte Irritation zeigen. Das Erkennen des emotionalen Zustands von Hunden und Katzen und fundierte Kenntnisse, wie Angst und Stress im Praxisalltag reduziert werden können, sollten mittlerweile selbst­verständlich in Untersuchung und Behandlung einfließen.

Das Programm des stressarmen Handlings nach Fear Free definiert die verschiedenen Level von Angst und Stress und zeigt auf, wie diese erkannt werden und was die Konsequenzen für das weitere Vorgehen sind (Abb. 1).

Furcht, Ängstlichkeit und Stress (Fear, Anxiety and Stress)

  • Furcht entspricht einem aversiven emotionalen Zustand als Reaktion auf eine konkrete Bedrohung, beziehungsweise was von diesem Individuum als Bedrohung empfunden wird. Die Bedrohung löst Immobilisierung, Vermeiden oder Angriff aus.
  • Ängstlichkeit hingegen beschreibt einen generellen Gefühlszustand von Angst oder von Erwartung von Gefahr; dies kann ein vorübergehender Zustand oder ein Persönlichkeitsmerkmal sein.
  • Stress ist, was von einem Individuum als Stress empfunden wird und hängt von der jeweiligen Bewältigungskompetenz ab. Es wird zwischen positivem Stress (Eustress), Stress, der bewältigt werden kann (Distress), und Stress, der nicht bewältigt werden kann, unterschieden (Distress).

Stress, der nicht bewältigt werden kann

Wenn das Individuum großem Stress ohne eine Bewältigungsstrategie ausgesetzt wird, kann dies zu Veränderungen im Gehirn führen. Die Amygdala, das "Furchtzentrum" zeigt als Konsequenz eine erhöhte Aktivität und die strukturelle und funktionale Konnektivität der beteiligten Hirnstrukturen inklusive präfrontalem Cortex werden verändert. Das heißt, das Individuum ist als Konsequenz in stetiger Erwartung von Gefahr, während gleichzeitig das "Entwarnungssystem" beeinträchtigt ist. Dieser Zustand kann während Tagen oder Wochen anhalten oder – nach komplexem Trauma – sogar irreversibel sein.

Ob eine Herausforderung für ein Individuum positiv, tolerierbar oder schlichtweg nicht zu bewältigen ist, hängt also nicht vom Stressor ab, sondern von der Fähigkeit, diesen Stress zu bewältigen.

Mögliche Ursachen von mangelhafter Resilienz

  1. Genetik/Epigenetik
  2. Deprivationssyndrom (mangelhafte Sozialisierung/Habituation in der Welpenzeit)
  3. Hoher Stresslevel in der Entwicklungsphase
  4. Chronische Erkrankung
  5. Chronischer Stress
  6. komplexes Trauma

Ob eine Herausforderung für ein Individuum positiv, tolerierbar oder schlichtweg nicht zu bewältigen ist, hängt nicht vom Stressor ab, sondern von der Fähigkeit, diesen Stress zu bewältigen.

Dr. Marianne Furler, Verhaltenstierärztin STVV

Stress und Angst schon im Wartezimmer

Zwei Drittel unserer Patienten sind spätestens im Wartezimmer mittel- bis hochgradig gestresst und werden unvermeidbaren weiteren Stressoren ausgesetzt, was einen zunehmend aversiven emotionalen Zustand zur Folge hat. Wir unterscheiden bei den Stressoren zwischen Umweltfaktoren wie Lärm, Gerüche, Pheromone, physischen Faktoren wie Schmerzen, Hunger, Krankheit und psychosozialen Faktoren wie fremde Menschen, andere Tiere, Trennung von der Bezugsperson etc. (Abb. 2).

Warum ist der emotionale Zustand wichtig

  • Das Ignorieren von Furcht, Angst und Stress (FAS) bei unseren Patienten ist schlichtweg nicht mehr zeitgemäß und wird mittlerweile von einer zunehmenden Anzahl von Tierbesitzer:innen abgelehnt.
  • Anzeichen von zunehmendem Stress müssen von tierärztlichen Fachpersonen korrekt erkannt und entsprechend in das weitere Vorgehen einbezogen werden.
  • Das Ignorieren von Furcht, Angst und Stress erschwert zukünftige Konsultationen (Angstlernen) oder macht sie unmöglich.
  • Nicht-Erkennen von „Stopp-Signalen“ kann zur Traumatisierung des Tieres führen, bzw. bereits traumatisierte Tiere triggern.
  • Das Erreichen der höchsten Eskalationsstufe kann ungehemmte Aggression auslösen und die anwesenden Personen gefährden.

Prinzipien für das Untersuchen und Behandeln nach Fear Free

Der Kontrollverlust durch das Halten für Untersuchung und Behandlung bedeutet oft die größte Belastung für viele unserer Patienten und daher sollten zwei Hände genügen, um das Tier sanft zu halten. Wenn es beginnt, sich zu wehren, wird es nach 2-3 Sekunden losgelassen, die Situation wird neu beurteilt und das weitere Vorgehen entsprechend der Vehemenz der Reaktion des Tieres angepasst.

Um Abwehrreaktionen auf ein Minimum zu beschränken, werden nach Fear Free folgende Prinzipien angewandt:

  1. Rücksichtsvolle Annäherung
  2. Sanfte Kontrolle
  3. Steigerung der Berührungsintensität
  4. Patienten-fokussiert und nicht Aufgaben-fokussiert
  5. Unterscheidung zwischen notwendigen und wünschenswerten Untersuchungen und Behandlungen.
  6. Regelmäßiges Unterbrechen zur Beurteilung des emotionalen Zustands des Patienten

Und natürlich werden Leckerli in hoher Frequenz gefüttert, mit der Möglichkeit deren Attraktivität zu steigern.

Mittels der Techniken und Prinzipien des stressarmen Handlings kann der Angst beim Tierarztbesuch vorgebeugt oder zumindest reduziert, bzw. eine ungehemmte Angstaggression bei der höchsten Eskalationsstufe des Tieres vermieden werden."

Dr. Marianne Furler, Verhaltenstierärztin STVV

Warum sollte der Hund oder die Katze gefüttert werden

Fressen beruhigt und beeinflusst den emotionalen Zustand somit positiv. Außerdem macht Fressen kombiniert mit etwas Unangenehmen, das Unangenehme weniger unangenehm. Und vor allem ob, wie und was das Tier frisst oder nicht, bzw. es plötzlich aufhört zu fressen, spiegelt den emotionalen Zustand und dessen Veränderung (Abb. 3).

Nach Fear Free werden sechs verschiedene Stresslevel beschrieben (FAS 0-5).

Stresslevel 0: Der Hund oder die Katze ist entspannt, interagiert mit uns und frisst die angebotenen Leckerlis. Untersuchung und Behandlung werden nach den Prinzipien von Fear Free durchgeführt, es ist aber unerlässlich, darauf zu achten, dass das Tier weiterhin entspannt bleibt (Abb. 4).

Stresslevel 1: Das Tier zeigt leichte Stress- und Konfliktsignale, wie Maul lecken, Kopf wegdrehen, pföteln etc., interagiert aber mit den anwesenden Personen und frisst die angebotenen Leckerlis. Auch in diesem Fall werden Untersuchungen und Behandlungen durchgeführt, jedoch unter genauer Beobachtung, für den Fall, dass das Tier beginnt, stärkere oder häufigere Stresssignale zu zeigen. In diesem Fall wird unterbrochen und das weitere Vorgehen angepasst. Den Besitzer:innen sollte empfohlen werden, zu Hause mit Medical Training einer Zunahme des Stresses vorzubeugen.

Stresslevel 2-3: Der Patient zeigt auf diesem Level klare Anzeichen von Stress, und die Frequenz von Konfliktsignalen ist deutlich höher. Das Tier interagiert zwar mit den anwesenden Personen, wirkt aber oft überdreht und nervös. Leckerlis werden eher hektisch bis grob angenommen. Wenn das Leckerli noch einigermaßen sanft genommen wird, wird dies als Level 2 angesprochen. Wenn der Hund grob wird – und dies in entspannten Zustand nicht zeigt – kann davon ausgegangen werden, dass sich das Tier bereits auf Level 3 befindet.

Diesen Patienten sollten hochwertigere Leckerlies (Leber- oder Thonpaste, Schlagrahm, Peanut Butter) und häufige Pausen angeboten werden, der Kontrollverlust für das Tier muss auf ein Minimum reduziert werden. Auch bei diesen Hunden ist ein Medical Training angezeigt und das Verabreichen einer angstlösenden Prämedikation, die der Besitzer z.B. zwei Stunden vor der Tierarztbesuch eingeben kann, sollte besprochen werden.

Stresslevel 4: Der Patient zeigt starke Anzeichen von Stress und Angst durch die ganze Körperhaltung sowie Hecheln und eventuell Zittern. Interaktionen mit den anwesenden Personen werden vermieden und Leckerlis werden nicht mehr angenommen. Diese Hunde zeigen starkes Meideverhalten, indem sie sich Annäherung und Berührungen entziehen, aber noch kein aggressives Verhalten. Nun ist ein sofortiges Unterbrechen angezeigt, und die Situation muss neu beurteilt werden (Abb. 5).

Stresslevel 5: Die Anzeichen von Angst und Stress sind nochmals gesteigert und die höchste Eskalationsstufe ist erreicht – das Tier wird mit Aggression auf die Bedrohung reagieren. Auch hier sind ein sofortiger Stopp und die Neubeurteilung der Situation zwingend. Falls eine sofortige Untersuchung oder Behandlung zwingend nötig ist, wird das Tier sediert. In allen anderen Fällen wird ein neuer Termin vereinbart und die Sedation eingeplant.

Leider ist es schwierig, bei einem Patienten, der beim Tierarztbesuch Stresslevel 4 oder 5 zeigt, mit anderen Methoden als sofortiger Sedation eine Untersuchung bzw. Behandlung durchzuführen. Denn es hat sich gezeigt, dass

  1. eine Prämedikation in der Regel nicht wirksam genug ist.
  2. Happy visits keinerlei Verbesserungen bringen.
  3. Medical Training nur für Manipulationen durch den Besitzer zu Hause (Ohren- oder Augentropfen applizieren etc.) empfohlen werden kann, damit Behandlungen in Sedation durch den Tierarzt oder die Tierärztin weniger oft nötig sind.

Bei Stresslevel 4 und 5 kann ein fehlender Abbruch der Handlungen und Versuche mit stärkerer Fixierung oder sogar Bestrafen des aggressiven Verhaltens fortzufahren, zur Traumatisierung des Patienten (und der Besitzer:innen) führen. Dies ist nicht nur gefährlich, sondern muss als Misshandlung des Tieres eingestuft werden.

Schlussfolgerung

Es ist unerlässlich, dass Tierärzt:innen Stresslevel beurteilen und in das weitere Vorgehen bei Untersuchung und Behandlung einbeziehen können, denn Angstlernen erschwert oder verunmöglicht zukünftige Konsultationen.

Mittels der Techniken und Prinzipien des stressarmen Handlings kann der Angst beim Tierarztbesuch vorgebeugt oder zumindest reduziert, bzw. eine ungehemmte Angstaggression bei der höchsten Eskalationsstufe des Tieres vermieden werden.

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