Plötzliche Erblindung bei Staffordshire-Hündin „Emma“
Die 4-jährige American-Staffordshire-Terrier Hündin Emma wurde im November letzten Jahres in meiner Tierarztpraxis für Augenheilkunde vorgestellt, weil sie plötzlich sehr unsicher laufe und gegen Gegenstände stoße, vermutlich sei sie blind. Auf Nachfrage erzählten die Besitzer dann in der Praxis, dass Emma bis zum Tag der plötzlichen Erblindung gesund und fit gewesen sei. Ein Unfall oder ähnliches sei nicht passiert, lediglich habe sie einige Tage zuvor den fröhlich wedelnden Schwanz eines Hundekollegen ins Gesicht bekommen.
Untersuchung auf Sehfähigkeit
Zunächst führten wir in der Praxis einen Hindernistest durch: Sowohl im hellen als auch im dunklen Raum stieß Emma gegen die aufgestellten Gegenstände. Eine weitere Testung der Sehfähigkeit wurde mithilfe des Drohreflexes durchgeführt, bei dem mit der Hand eine Bewegung auf das Auge zu gemacht wird. Dabei muss darauf geachtet werden, dass nicht ein Luftzug zum reflektiven Schluss der Lider führt. Beim positiven Drohreflex sieht der Hund die Hand auf das Auge zukommen und verknüpft diese Geste bewusst mit einer Bedrohung, sodass er das Auge schließt. Unsere Patientin reagierte jedoch auf beiden Augen gar nicht auf den Drohreflex.
Bei Lichteinfall ins Auge schloss sich bei Emma die Pupille deutlich verlangsamt. Diese sogenannte Pupillarlichtreaktion ist allerdings kein Hinweis auf Sehfähigkeit, sondern nur auf eine gewisse Menge funktionierender Zellen der Netzhaut. Dasselbe gilt für den in Emmas Fall ebenfalls positiven Blendreflex: Das Leuchten eines hellen Lichts direkt ins Auge führt zu einem reflektiven Blinzeln. Emma sah auch keinen vor ihr fallengelassenen Wattebausch. Aus den Ergebnissen des Hindernistests und der Reflexprüfung kann somit gesagt werden, dass Emma zum Zeitpunkt der Untersuchung blind war. Hierfür kann es auf verschiedenen Ebenen im Auge Ursachen geben, die im Rahmen der folgenden Augenuntersuchung herausgefunden werden.
Spezielle Augenuntersuchung
Mit der Spaltlampe werden die vorderen Augenabschnitte untersucht. Hierzu zählen die Hornhaut, die vordere Augenkammer, die Regenbogenhaut und die Linse. Bei Emma fand sich eine leichte Trübung durch Entzündungszellen in der vorderen Augenkammer. Diese war allerdings nicht so stark, dass sie für die Erblindung verantwortlich sein konnte. Die Messung des Augeninnendrucks zeigte mit 26 mmHg rechts und 29 mmHg links leicht erhöhte Werte.
Emma wurde daraufhin einer Untersuchung mit dem „IrisVet“ unterzogen. Hierbei wird die Reaktion der Pupille auf rotes und blaues Licht beurteilt. Hiermit kann man feststellen, ob sich die Ursache der plötzlichen Erblindung auf der Ebene des Auges oder des Gehirns („zentrale Erblindung“) findet. Dies ist wichtig, denn die Gründe für eine plötzliche Erblindung können vielfältig sein. Zu ihnen gehören eine plötzliche Linsentrübung oder ein akutes Glaukom, d.h. ein erhöhter Augeninnendruck, ein plötzlicher Funktionsverlust der Netzhaut bei der sogenannten „sudden aquired retinal degeneration“, eine Netzhautablösung, eine Entzündung des Sehnerven oder eben eine Erkrankung im Gehirn, bei der das Sehzentrum betroffen ist. Auch eine Vergiftung, z.B. durch die Aufnahme einer bestimmten Pferdeentwurmungspaste, kann zur Erblindung führen.
Bei der Untersuchung des Pupillenreflexes auf Rot- und Blaulicht fiel auf, dass die Pupille von Emma bei Beleuchtung mit Rotlicht keine Reaktion zeigte, mit Blaulicht aber schon. Damit kommen als Ursache für die Erblindung Erkrankungen der Sehzellenschicht im Auge infrage, da die Photorezeptoren der Netzhaut besonders empfindlich im Spektralbereich des Rotlichts sind. Die Ganglienzellen der Netzhaut, die sich im Sehnerv bündeln und zum Gehirn ziehen, reagieren besonders gut im blauen Spektralbereich. Wenn diese intakt sind, zieht sich die Pupille bei Beleuchtung mit blauem Licht zusammen.
Mit einem Kopfbandophthalmoskop und einer spherischen Linse kann der Augenhintergrund, also die Netzhaut und der Sehnerv, betrachtet werden. Hierbei fiel bei Emma eine beidseitige Ablösung der Netzhaut auf, das heißt eine Abhebung der Schicht, die die für das Sehen wichtigen Photorezeptoren enthält, und die ihre Information an den Sehnerv weitergibt, der dann ins Gehirn führt. Eine solch großflächige Ablösung der Netzhaut kann zum Sehverlust führen. Bei jeder Netzhautablösung sollte auch eine Messung des Blutdrucks erfolgen, da unter anderem auch ein erhöhter Blutdruck zu diesem Phänomen führen kann. Der arterielle Blutdruck wird wie beim Menschen auch beim Hund mit einer Manschette am Vorderbein gemessen. Die Normalwerte liegen ähnlich wie beim Menschen bei 120 mmHg, allerdings kann beim aufgeregten Hund auch ein Blutdruck von 140 mmHg noch normal sein. Emmas Blutdruck betrug 100 mmHg und war damit im Normalbereich. Diagnose: Netzhautablösung.
Mögliche Ursachen
Ursächlich für eine Netzhautablösung wie in Emmas Fall kommen viele Auslöser infrage, aber häufig findet sich kein eindeutig zuzuordnender Grund. In diesem Fall wird die Netzhautablösung dann als idiopathisch oder immunmediiert bezeichnet. Entwicklungsbedingte, angeborene Fehlbildungen wie bei der Collie-Augen-Anomalie oder der Retinadysplasie können ebenso zu Netzhautablösungen führen wie rassebedingte Verflüssigungen des Glaskörpers, also der gallertigen Masse, die die Netzhaut am Augenhintergrund „festhält“. Diese Form der Ablösung findet sich häufig bei kleinen, kurznasigen Hunden. Weiterhin können Infektionskrankheiten für die Ablösung der Netzhaut verantwortlich sein, hierbei seien die sogenannten „Reisekrankheiten“ Leishmaniose, Ehrlichiose und Babesiose aufgezählt, die vorwiegend Hunde aus dem Mittelmeerraum befallen, sowie die in unseren Bereichen häufiger vorkommende Toxoplasmose oder Neosporose. Auch Tumorerkrankungen (z.B. das Lymphom, eine der Leukämie ähnliche Krankheit), Bluthochdruck, Blutarmut oder Gerinnungsstörungen können ursächlich für eine Netzhautablösung sein.
Weitere Untersuchungen
Deshalb ist eine gründliche internistische Allgemeinuntersuchung des Patienten unerlässlich. Zu dieser gehören eine Untersuchung des roten Blutbilds und der blutchemischen Werte, außerdem eine Untersuchung auf Antikörper gegen die oben genannten Infektionskrankheiten. Gegebenenfalls kann auch eine Röntgenuntersuchung des Brustkorbs, ein Ultraschall des Bauchraums und eine Urinuntersuchung nötig werden. Für die internistische Untersuchung wurde Emma an ihre Haustierärztin zurück verwiesen. Die Blutuntersuchung war bis auf einen erhöhten Wert der Toxoplasmen-Antikörper unauffällig, diesen findet man jedoch bei vielen Hunden, ohne dass sie erkranken.
Emma erhielt umgehend orales Kortison und zusätzlich ein Antibiotikum. Außerdem wurde ein Medikament zum Schutz der Nervenzellen der Netzhaut verordnet. Wegen des leicht erhöhten Augendrucks und der Entzündungszellen in der vorderen Augenkammer erhielt sie zwei verschiedene Augentropfen. Ob nun der erhöhte Druck und die Entzündung Folge der Netzhautablösung oder Ausdruck der mit der Grunderkrankung einhergehenden inneren Augenentzündung waren, lässt sich rückblickend nicht sagen.
Weiterer Verlauf
Schon nach einigen Tagen berichtete die Besitzerin erfreut, dass Emma nicht mehr gegen Gegenstände laufe und wieder glücklicher herumspringe. Eine Woche nach der Erstuntersuchung wurde mir Emma zur Kontrolle vorgestellt. Sie reagierte wieder beidseits auf den Droh- und den Blendreflex, die Pupillen zogen sich bei Lichteinfall zusammen. Sie konnte sich gut im Raum orientieren und die Besitzer berichteten, sie verhalte sich wieder wie früher. In der Spaltlampen-Untersuchung zeigten sich keine Entzündungszellen mehr im Auge, der Augeninnendruck hatte sich beidseitig normalisiert.
Bei der Untersuchung des Augenhintergrunds zeigte sich die Netzhaut wieder auf beiden Augen angelegt. Allerdings fanden sich schon jetzt im Bereich des Augenhintergrunds heller reflektierende Bereiche und eine vermehrte Einsprossung von schwarzem Pigment in den eigentlich grünlichen Bereich der Netzhaut (Tapetum lucidum). Dies sind Zeichen von zugrunde gehenden Netzhautzellen. Dieser Zustand der Netzhaut-Degeneration stellt sich schon nach wenigen Stunden der Netzhautablösung ein und ist nicht rückgängig zu machen, wenn die Netzhaut wieder angelegt ist.
Aus diesem Grund ist es extrem wichtig, dass Hunde mit plötzlicher Erblindung als Notfall zum Tierarzt gebracht werden, denn nur eine schnelle und gezielte Behandlung der Grunderkrankung kann zu einer Wiedererlangung der Sehfähigkeit ohne größere Begleitschäden führen. In Emmas Fall konnte die Sehfähigkeit bis heute (3 Monate nach der vorübergehenden Erblindung) erhalten bleiben, die degenerativen Veränderungen der Netzhaut sind nur wenig vorangeschritten. Die Therapie mit Augentropfen, Kortison, Nervenschutz und Antibiotikum wurde über 4 Wochen langsam ausschleichend fortgeführt, inzwischen ist Emma ohne Medikamente weiterhin sehend.