Sophie Strodtbeck: "Auch Hunde haben das Recht, erwachsen zu werden."
Ein kastrierter Hund ist leichter zu halten, weniger aggressiv und streunt nicht – so jedenfalls die gängige Meinung. Die Tierärztin und Verhaltensexpertin Sophie Strodtbeck plädiert hingegen für einen bedachten Umgang mit der nicht reversiblen Operation, auch weil manche Verhaltensauffälligkeiten sich nach dem Eingriff eher verschlimmern.
Nimmt die Zahl von Kastrationen bei Hunden eher zu oder ab?
Strodtbeck: Dazu gibt es keine Erhebungen, nach Aussagen von Tierärztinnen und Tierärzten sind etwa 70 bis 80 Prozent der Kundenhunde kastriert. Ich habe aber den Eindruck, es tut sich etwas in dieser Frage. Hundehalter hinterfragen pauschale Kastrationsempfehlungen, und auch Hundetrainer werden nachdenklicher. Noch vor rund zehn Jahren, als ich anfing, zu dem Thema Vorträge zu halten, war ich so etwas wie eine Nestbeschmutzerin. Etliche Kollegen im Publikum verdrehten die Augen. Es war halt üblich, Hunde vor der Pubertät, vor der ersten Läufigkeit zu kastrieren.
Und warum sollte man das nicht tun?
Strodtbeck: In der Pubertät des Hundes findet wie beim Menschen eine Umorganisation im Gehirn statt. Es kommt zur Spezialisierung kleinerer Areale, die Myelinscheiden werden ausgebaut – das dient sozusagen der schnelleren Leitung –, der präfrontale Cortex (Teil des Frontallappens der Großhirnrinde) bekommt mehr Zuständigkeiten, das dient der Impulskontrolle und der Frustrationstoleranz. Kurz, die Hormone steuern den Übergang vom emotionalen, infantilen Verhalten zum rationalen, erwachsenen Verhalten. Und genau das wollen viele Leute nicht, sie wollen dauerhaft einen verspielten, niedlichen Hund. Wenn man ihn in dieser Phase kastriert, beraubt ihn aber der Möglichkeit, sich zu entwickeln. So wie man es besonders gut bei Hündinnen beobachten kann, die mit jeder Läufigkeit reifer und umsichtiger werden. Ich finde, auch Hunde haben das Recht, erwachsen zu werden.
Wobei natürlich gerade die Pubertätsphase sehr anstrengend für die Halter ist, nicht alle Menschen haben die Gelassenheit, das durchzuhalten.
Strodtbeck: Man braucht unendlich viel Geduld und gute Nerven, das ist klar. Aber man muss sich immer wieder sagen: Es ist nur eine Phase, es geht vorbei. Die Pubertät gehört wie beim Menschen zur Entwicklung. Man sollte manchmal einfach einen Schritt zurücktreten, sich selbst zurückstellen und versuchen zu verstehen, was im Hund gerade passiert. Man sieht es dem Tier oft an: Es kann jetzt gerade nicht anders. Wichtig ist natürlich auch: Was hat der Hund bis dahin gelernt? Auf einer guten Erziehungsbasis lässt sich die Pubertät einfacher durchstehen.
Nun werden ja Hündinnen überwiegend aus medizinischer Gründen kastriert, als Prophylaxe gegen Pyometra, Mammatumoren oder Scheinmutterschaft.
Strodtbeck: Wenn medizinische Aspekte im Vordergrund stehen, empfehle ich dennoch, bei Hündinnen mit dem Eingriff bis nach der dritten Läufigkeit zu warten, damit sie die Chance haben, sich zu entwicken, zu reifen. Auch das Zyklusgeschehen spielt sich oft erst nach diesem Zeitraum ein, die Abstände werden regelmäßig, die Hündin gewöhnt sich an den „komischen Zustand“ ihres Körpers. Ausnehmen möchte ich aber die Scheinträchtigkeit und Scheinmutterschaft, sie sind ja keine Krankheit, sondern eine Besonderheit der Caniden. Warum sollte man prophylaktisch gegen etwas vorgehen, was zum Hund gehört? Zyklusabhängiges Verhalten bei Hündinnen ist natürlich, es kann vom völligen Aufgedrehtsein im Proöstrus, in dem es dann im Zusammensein mit anderen auch mal richtig scheppert, bis zur ruhigen Häuslichkeit im Metöstrus reichen. Das ist sicher anstrengend; ich finde es aber auch faszinierend, diese Phasen mitzuerleben und zu beobachten. Aber natürlich kann eine ausgeprägte Scheinmutterschaft, die über das bloße Ruhigerwerden und ein geschwollenes Gesäuge hinaus geht, auch eine Indikation für eine Kastration sein, wenn die Hündin oder ihre Gesundheit darunter leiden.
Auf einer guten Erziehungsbasis lässt sich die Pubertät einfacher durchstehen."
Bei Rüden, die kastriert werden sollen, geht es ja meist um unerwünschtes Verhalten: Streunen, Aggression, Hypersexualität. Ist das nicht Grund genug?
Strodtbeck: Das kommt drauf an. Verhaltensauffälligkeiten müssen immer differenziert hinterfragt werden. Warum streunt ein Hund? Fliegt wirklich das Duftmolekül einer Hündin vorbei, oder ist Nachbars Komposthaufen einfach zu spannend? Um welche Art der Aggression handelte es sich, welche Hormone sind daran beteiligt? Und manch angebliche Hypersexualität stellt sich bei genauerer Betrachtung als spielerisches Aufreiten oder Imponiergehabe heraus und hat nichts mit den Sexualhormonen zu tun.
Wie kann man die verschiedenen Arten von Aggression unterscheiden?
Strodtbeck: Die Jungtierverteidigung ist zum Beispiel eine der stärksten Aggresssionsformen. Sie wird über das Hormon Prolaktin gesteuert; auch bei Rüden ist dieses beim Zusammenleben mit Welpen nachgewiesen. Hohe Testosteronwerte hemmen die Prolaktinbildung, so dass umgekehrt durch eine Kastration das Prolaktin steigt und damit möglicherweise die Aggression. Oder nehmen wir die defensive Aggression – also etwa die Ressourcen-, territoriale oder Angstaggression – die durch Cortisol gesteuert wird. Da Sexualhormone selbstbewusst machen und angstlösend wirken, verschlimmern sich diese Aggressionsformen oft nach einer Kastration.
Woran erkennt man eine echte Hypersexualität?
Strodtbeck: Am ehesten an einer erhöhten Speichelproduktion, Schäumen und Kieferklappern. Außerdem wird das Vomeronasalorgan sichtbar aktiviert.
In welchen Fällen halten Sie eine Kastration für gerechtfertigt oder raten sogar dazu?
Strodtbeck: Beim Rüden bei Streunen in Anwesenheit läufiger Hündinnen und wenn er sonst keinen Freilauf haben dürfte, bei starker offensiver Aggression oder bei echter Hypersexualität, also wenn ein Hund wochenlang leidet, nicht frisst und nur jault. Bei Hündinnen kann eine Kastration bei zyklusbedingten Verhaltensproblemen helfen, etwa Aggression ausschließlich im Proöstrus und Östrus oder Depression in der Scheinmutterschaft. Auf jeden Fall sollte die Kastration frühestens nach der dritten Läufigkeit erfolgen, beim Rüden im entsprechenden Alter.
Was empfehlen Sie Hundehaltern generell zum Thema Kastration?
Strodtbeck: Eine Kastration ersetzt in den seltensten Fällen ein Verhaltenstraining. Ich habe schon viele Hundehalter erlebt, die nach dem Eingriff verzweifelt waren, weil sich nichts geändert hat, oder das Problem sogar schlimmer wurde. Deshalb sollte man gerade bei aggressiven Rüden vor einer endgültigen Operation immer einen Probelauf mit einem Deslorelin-Implantat machen, um zu sehen, ob die gewünschte Verhaltensänderung eintritt. Wenn das nicht der Fall ist, muss man an den Verhaltensproblemen arbeiten. Das geht, und das sind wir unseren Tieren doch auch schuldig. Und: Das Leben mit einem intakten Hund ist total spannend, das kann ich aus eigener Erfahrung nur immer wieder unterstreichen.
Dieses Interview wurde bereits in der Fachzeitschrift "TU-Tierärztliche Umschau", Ausgabe 1-2/2019, Seite 40–41, veröffentlicht.