Sandra Musculus - „Blindfisch on tour – Urlaub mit einem blinden Hund"

Portrait Sandra Musculus
von Sandra Musculus – 25.07.2018

In diesem Jahr haben wir ein für uns besonders Abenteuer vor: Bergwandern mit einem blinden Hund. Wir, das bin ich, Sandra (Kölnerin, 38 Jahre alt), Lis (gebürtige Rumänin, geschätzte 15 Jahre alt) und Charlie (gebürtiger Ungar, geschätzte 5 Jahre alt). Außerdem mein Partner Hannibal und seine beiden Söhne. Charlie lebt seit 2014 bei mir, Ende 2015 wurde bei ihm eine PRA, progressive Retinaatrophie, diagnostiziert. Hierbei handelt es sich um eine genetisch bedingte Erblindung, bei der die Netzhaut langsam abstirbt. Die PRA beginnt meist mit einer Nachtblindheit und endet immer in einer völligen Blindheit. Charlie kann mittlerweile kaum noch sehen - manchmal scheint er noch bewegliche Schatten zu erkennen, aber das schwindet meiner Beobachtung nach nahezu täglich.

Von der Gewohnheit ins Unbekannte

Zuhause in gewohnter Umgebung glaube ich manchmal selbst nicht, dass Charlie nichts mehr sieht. Er findet sich perfekt zurecht, ist ein Wirbelwind und sorgt mit seinem lebensfrohen Charme für gute Laune. Er läuft – wann immer möglich – ohne Leine, fährt mit mir Fahrrad und führt ein völlig normales Hundeleben ohne Einschränkungen. Beide Hunde sind es gewohnt, mich ständig zu begleiten. Büro, Restaurant, Urlaub, wir machen fast alles zusammen. Und so steht Ihre Chance, dass das Kofferpacken eine gemeinsame Reise und nicht eine Geschäftsreise ohne Hunde bedeutet, bei 80%. Kofferpacken ist für Beide ein Erlebnis. Lis geht schnell in eine „Protesthaltung“, die klar ausdrückt: „Auf keinen Fall ohne mich!“ und Charlie wird ganz aufgeregt. Er wuselt zwischen den Sachen und Taschen herum, steckt überall seine Nase hinein und ist vor Freude kaum zu bremsen. Wir haben also eine gewisse Routine, was das Reisen angeht. Doch noch nie waren wir gemeinsam in den Bergen, ich habe keine Idee, wie Charlie sich dort machen wird und ob die ungewohnte Umgebung voller Hindernisse ein Problem für ihn sein wird. Außerdem ist es unsere erste große Reise, seitdem seine Sehfähigkeiten merklich noch schlechter geworden sind.

Auf in die Schweiz!

Es ist erstaunlich: Ich schaffe es, 14 Tage mit einem Handgepäck-Koffer auszukommen. Aber für die Hunde benötige ich eine Reisetasche und eine separate Tasche mit Futter. Decken und Kissen, Handtücher, Spielzeug, Medikamente für den Notfall, Globuli, Erste-Hilfe-Set, das alles will verstaut werden. Zum Glück haben wir ein Trenngitter im Kofferraum, so dass die Hunde ausreichend Platz haben und sicher untergebracht sind. Die Autofahrt ist mittlerweile ein Leichtes für uns. Diverse Fahrten quer durch Deutschland und bis nach Italien haben Charlie zu einem Profi werden lassen.

Das Ankommen mit Charlie ist immer etwas Besonderes. Lis ist immer gleichbleibend cool. „Neue Umgebung? Ach was soll’s, Hauptsache es gibt pünktlich um 18 Uhr Futter.“ Charlie hingegen ist aufgeregt, neugierig, will erkunden. Und das ist auch immer unser erstes Ritual. Gemeinsam die Räumlichkeiten erkunden. Ich führe Charlie durch die Räume. Versuche, ihm einen Überblick zu verschaffen. Platziere Decken, Kissen, Wassernapf. Führe Charlie zu diesen Plätzen. Zeige ihm, wo das Bett steht, denn seine Decke für nachts liegt immer neben meiner Seite. Charlie schläft auf meiner Seite, Lis auf Hannibals. Denn falls nachts ein Gewitter aufkommt, braucht Charlie Beistand. Gewitter mag er nicht und das ist mit der Erblindung schlimmer geworden. Danach machen wir den ersten Spaziergang nach Ankunft. Erkunden das nähere Umfeld unserer Bleibe und entspannen von der Fahrt.

Der verdammte Tisch im Wohnzimmer

Bedingt durch den geführten Rundgang mit mir orientiert sich Charlie eigentlich sehr schnell in neuen Räumen. Aber dieses Mal gibt es ein Hindernis, dass ihm noch nach 5 Tagen Probleme bereitet: Ein Couchtisch im Wohnzimmer. Aus massivem Holz, die Beine nach innen versetzt, eine dicke Tischplatte, die darüber in den Raum ragt. Für Charlie nicht wahrzunehmen. Mehrfach täglich trifft er diese Platte mit dem Kopf. Obwohl der Tisch immer an gleicher Stelle steht. So starrköpfig war Charlie selten, was ein Hindernis angeht. Normalerweise lernt er schnell und geht einen entsprechenden Bogen, manche Hindernisse scheint er allerdings kraft seines Starrsinns aus dem Weg räumen zu wollen. Und so steht es auch um diesen Tisch. Ich habe es aufgegeben, ihn davor zu warnen.

Der Verzicht auf einen Sinn muss nicht zwingend eine Einschränkung der Lebensqualität mit sich bringen.

Charlie

Mischling, 5 jahre alt

Kein Gespür für Abgründe

Charlie ist den Freilauf gewohnt. Wir haben entsprechende Kommandos, mit denen ich ihn steuern kann und er kommt in nahezu jedem Gelände zurecht: Schwimmen im Gardasee, Freilaufflächen in Berlin, Sandlauf an Hollands Küste. Doch über 500 m über dem Meeresspiegel waren wir noch nie, haben noch nie eine Wanderung in den Bergen gemacht und uns am Abgrund bewegt. Und das habe ich schnell erkennen müssen: Charlie hat kein Gespür für Abgründe. Er steht davor und vertraut blind darauf, dass sich gleich eine Stufe auftun muss, auf die er treten kann. Es macht für ihn irgendwie keinen Unterschied in der Wahrnehmung, ob es einen halben Meter oder 20 Meter abwärts geht. Er stoppt kurz und will den nächsten Schritt machen, wie an einer Treppe. Zum Glück trägt er immer sein Geschirr und war auf den ersten Wanderungen auch angeleint, weshalb ich mittels eines beherzten Rucks an der Leine verhindern konnte, dass er wie Hans-Guck-in-die-Luft abstürzt. Weitere Beobachtungen bestärkten diesen ersten Eindruck: Abgründe kann er nicht erfassen und empfindet er nicht als bedrohlich.

Kleine Einschränkungen und viel Spaß

Von Charlies mangelndem Bewusstsein für Gefahren abgesehen, ist es wundervoll. Es ergeben sich für uns kleine Einschränkungen im Freilauf, wann immer ich die Umgebung nicht völlig überblicken kann und für sicher erkläre, bleibt er an er Leine. Das ist aber auch schon alles. Wir laufen viel, genießen die Berge, haben eine tolle Zeit und Charlie bewegt sich fast so sicher wie zu Hause – mit Ausnahme des Couchtisches. Auch in den Bergen kommt der blinde Hund bestens zurecht und beweist mir mal wieder deutlich: Der Verzicht auf einen Sinn muss nicht zwingend eine Einschränkung der Lebensqualität mit sich bringen.