Das Hygiene-Missverständnis
Hygiene beugt Erkrankungen vor, aber kann sie nicht heilen
Eigentlich sollte es unstrittig sein, dass es besser ist, eine Infektion mit einem Erreger zu vermeiden, als sich diesem auszusetzen und eine Erkrankung zu riskieren. Der vorbeugende Charakter von Hygiene wird aber dennoch oft missverstanden. Denn Infektionswege, Immunantworten und die damit verbundenen Risiken zu verstehen erfordert eine fundierte Ausbildung, die natürlich nicht jeder im entsprechenden Umfang besitzt. Für Healthcare-Professionals wie Tierärzte und tierärztliche Fachangestellte ist es auf Grund der Ausbildung selbstverständlich, im Berufsalltag vorsorgliche Maßnahmen zu ergreifen, die das Ziel haben, eine Erkrankung von Tier und Mensch zu vermeiden. Denn allen Beteiligten ist klar, dass die Hygienemaßnahmen in Haus und Praxis, wie z.B. die Desinfektion, dazu dienen, die anderen Patienten vor den Erregern des Vorgängers zu schützen und größere Krankheitsausbrüche zu verhindern.
Doch Hygiene wird auch in Zeiten von Corona noch oft als eine Maßnahme verstanden, die im Fall einer akuten Erkrankung, also dann, wenn Tier oder Mensch sich bereits schlecht fühlen, einen Beitrag zur Genesung leisten könnte. Die Hygiene wird hier mit einer Behandlungsmethode verwechselt, was dazu führen kann, dass sie nicht mehr ihrem eigentlichen Zweck dient, da sie falsch umgesetzt wird.
Diesem Missverständnis wird durch einige weitere, verbreitete Fehlannahmen Vorschub geleistet. Hartnäckig hält sich unter anderem die Vorstellung, dass ein Zuviel an Hygiene die Bildung eines „gesunden“ Immunsystems verhindern würde. Doch unter alltäglichen Bedingungen jenseits von speziellen, keimfreien Laboren und Zuchten gibt es dafür keinen Anhaltspunkt. Zwar ist bekannt, dass langfristige Sterilität - also die Abwesenheit sämtlicher Mikroorganismen - die Entwicklung von adversen Immunreaktionen begünstigen kann, aber Sterilität ist im Alltag selbst mit Desinfektion nicht zu erreichen. Auch in einem professionellen Umfeld ist die Sterilität lokal und zeitlich stark begrenzt. Daher hat diese Betrachtung für die allergrößte Mehrheit der Patienten keine Relevanz. Eine Furcht, durch überbordende Hygiene dem Immunsystem zu schaden, ist also unbegründet.
Eine Furcht, dem Immunsystem durch überbordende Hygiene zu schaden, ist unbegründet."
Dennoch nehmen viele Menschen für sich und ihre Tiere bereitwillig ein Infektionsrisiko in Kauf. Hier spielt oft die zweite Fehleinschätzung eine Rolle, nämlich dass es besser sei, eine Krankheit auf natürliche Weise zu überstehen, als sich den vermeintlich schädlichen Einflüssen von Reinigungs- und Desinfektionsmitteln auszusetzen oder sogar Medikamente zu nehmen.
Da insbesondere das adaptive Immunsystem aber immer nur auf die Präsenz von Keimen reagieren kann, kann eine Exposition gegenüber einem Erreger für immunschwache Patienten bereits ein unvertretbares Risiko darstellen. Häufig kommt es hier zu schwersten Krankheitsverläufen, die eben auch einer tierärztlichen Behandlung bedürfen, weil akute Lebensgefahr besteht.
Deshalb ist besonders die Gruppe der JASIs (Junge, Alte, Schwangere und Immunsupprimierte) auf ein Hygienekonzept angewiesen, das auch im Alltag jenseits der Klinik- und Praxisräume geeignet ist, das Risiko einer Infektion zu minimieren. Denn für diese Risikogruppe besteht die größte Gefahr, dass das Immunsystem eben nicht von allein mit einer Erkrankung fertig wird. Weiterhin wird ein vorbeugendes Hygienekonzept umso wichtiger, je enger die fraglichen Patienten mit anderen Tieren zusammenleben, da durch die Nähe die Chance wächst einem Erreger zu begegnen.
Private Hygienekonzepte für
verantwortungsbewusste Haustierbesitzer
In einer Gesellschaft, die mit wachsender Begeisterung Hunde und andere Haustiere hält, sollten daher private Hygienekonzepte für verantwortungsbewusste Haustierbesitzer zu einer Selbstverständlichkeit werden. Aber auch die Angebote rund um das Haustier, die sich wachsender Beliebtheit erfreuen, werden zukünftig nicht ohne ein tiergerechtes Hygienekonzept auskommen. Sofort kommen Zuchten, Hundetagesstätten, Hundespielplätze und -pensionen in den Sinn, die eine Begegnungsstätte für Tiere untereinander sind.
Dies zu verwirklichen, kann aber nur mit Hilfe der Healthcare-Professionals erreicht werden, die vor der Herausforderung stehen, dem Hundebesitzer gegenüber mit den zuvor genannten Missverständnissen aufzuräumen, Ängsten zu begegnen und Sicherheit zu vermitteln. Wir stehen vor einem komplizierten Unterfangen, das ultimativ auch eine Abwägung zwischen immunologischem Nutzen und sozialer Verträglichkeit finden muss, damit im Kampf gegen Infektionskrankheiten das Grundbedürfnis nach Miteinander und Teilhabe keinen Schaden nimmt.
Dass wir als tierliebende Gesellschaft aber diesen Weg einschlagen müssen, daran besteht kein Zweifel.