Was ist Schmerz?

Der Beagle „Kurt“ knurrt und jault bei jeder Berührung, er läuft ganz vorsichtig und hält den Kopf tief und starr. Niemand würde daran zweifeln, dass „Kurt“ unter Schmerzen leidet, er hat einen Bandscheibenvorfall im Halsbereich.

Wächter und Quälgeist

Schmerz ist ein Wächter, aber auch ein Quälgeist. Schmerz hat eine soziale Komponente, ein Individuum lernt durch Erfahrung, was Schmerz ist. Schmerz induziert Schutzverhalten und ähnelt einer Motivation wie Hunger oder Durst. Die „Unangenehmheit“ von Schmerz wird dem Vergnügen oder der Lust gegenübergestellt und scheint zunächst von Sinnesempfindungen wie Sehen oder Hören weit entfernt zu sein. Schmerz ist jedoch zweidimensional, mit einem sensorisch-diskriminativen Anteil, der Information darüber gibt, wo und wie groß der Schaden ist, und einem emotional affektiven Anteil, der das Leiden und die Aversion induziert. Das spiegelt sich in der Definition der IASP (International Association for the Study of Pain) wider: „Schmerz ist eine unangenehme sensorische oder emotionale Erfahrung, verbunden mit einer tatsächlichen oder potentiellen Schädigung eines Gewebes …“. Die individuelle und subjektive Erfahrung Schmerz ist nicht direkt zugänglich und kann somit von einem externen Untersucher nie vollständig nachvollzogen werden - auch nicht bei einem Mitmenschen. Beim non-verbalen Tier gestaltet sich die Beurteilung des Schmerzempfindens noch schwieriger. Die IASP diskutiert derzeit eine Neugestaltung ihrer Schmerzdefinition und erkennt darin an, dass die verbale Beschreibung nur eine von mehreren Verhaltensweisen ist, um Schmerzen auszudrücken. Die Unfähigkeit zu kommunizieren negiert nicht die Möglichkeit, dass ein Mensch oder ein Tier Schmerzen erleidet. Derzeit können beim Tier nur indirekte Folgerungen aus autonomen und neuroendokrinen Reaktionen oder Verhaltensbeobachtungen abgeleitet werden. Die Suche nach einem spezifischen Schmerzbiomarker war bisher nicht erfolgreich.

Können Tiere im gleichen Ausmaß wie der Mensch unter Schmerzen leiden?

Die philosophische Frage „Können Tiere im gleichen Ausmaß wie der Mensch unter Schmerzen leiden?“ wird seit Jahrhunderten diskutiert. „Kinder und vor allem Neugeborene sind wenig schmerzempfindlich.“ Diese Aussage wurde oft damit begründet, dass die Schmerzwahrnehmung vom Entwicklungsgrad der Hirnrinde und der Myelinisierung des Nervensystems abhängig sei. Die These, dass Tiere „wenig schmerzempfindlich“ seien, stützte sich auf die gleichen Argumente. Neuroanatomische Studien schreiben vor allem dem präfrontalen Cortex die Aufgabe zu, der Empfindung Schmerz die „unangenehme“ Komponente zu geben.

Menschliche Patienten, die aus verschiedensten Gründen einer Lobotomie des präfrontalen Cortex unterzogen wurden, konnten zwar Schmerz wahrnehmen, waren dadurch aber nicht beunruhigt und empfanden den Schmerz nicht als unangenehm. Bei den meisten Tierspezies ist der präfrontale Cortex wenig ausgeprägt. Dies führte zu dem Schluss, dass Tiere Schmerzen nicht als unangenehm empfinden und folglich nicht leiden können. Heute geht man davon aus, dass auch in anderen Regionen des Cortex und anderen Teilen des Gehirnes eine Verarbeitung und Gewichtung des ankommenden Schmerzsignals stattfindet. Säugetiere werden als fühlende („sentient“) Wesen anerkannt.

Es gibt derzeit keinen spezifischen Schmerzbiomarker und wir erfassen Schmerzen indirekt durch Verhaltensbeobachtung und autonome Reaktionen. Es gibt verschiedene Schmerzarten, die unterschiedlich auf Schmerzmittel ansprechen. Gutes Schmerzmanagement passt die Therapie individuell an."

Prof. Dr. Sabine Kästner, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover

Wie entsteht Schmerz?


Nozizeptiver Schmerz

Physiologischer, adaptiver, nozizeptiver Schmerz entsteht über die Stimulation von peripheren Rezeptoren (Nozizeptoren), die nur auf gewebeschädigende thermische, chemische oder mechanische Stimuli ansprechen. Diese Impulse werden über spezialisierte Nervenfasern zum Rückenmark geleitet, wo eine erste Modulation der Signalstärke stattfindet. Die nozizeptiven Signale steigen bis zum Gehirn auf, wo nach komplexer Verarbeitung in der Großhirnrinde die bewusste Empfindung von Schmerz entsteht. Unbewusste Rückziehreflexe mit einer motorischen Reaktion (Nozifension), zum Beispiel bei Berührung einer heißen Herdplatte, finden statt, bevor es „weh tut“ - also bevor das Signal im Gehirn ankommt. Andererseits können die unbewussten sinnesphysiologischen Prozesse der Nozizeption auch unter Bewusstlosigkeit ablaufen, wenn kein Schmerz wahrgenommen wird, z.B. unter hypnotischen Anästhetika. Klassische Beispiele für nozizeptiven Schmerz sind der Operationsschmerz, Schnittwunden und Verbrennungen.

Entzündlicher Schmerz

Bei einer Gewebeschädigung durch ein Trauma oder einen chirurgischen Eingriff verändert sich nach Freisetzung von Entzündungsmediatoren das Mikromilieu der Nozizeptoren, die daraufhin ihre Empfindlichkeit und Anzahl erhöhen. Dieses Phänomen wird als periphere Sensibilisierung bezeichnet und geht mit einer verstärkten peripheren Schmerzempfindung (Hyperalgesie) einher. Innerhalb von wenigen Minuten bis Stunden nach Beginn eines schmerzhaften Prozesses wird im Nervensystem eine Vielzahl von Anpassungsprozessen an den Nervenfasern und im Bereich der Synpasen in Gang gesetzt, die zu einer Verstärkung oder Erleichterung der Signalweiterleitung führen. Bei diesem Prozess spricht man von zentraler neuronaler Sensibilisierung oder dem „wind-up“-Phänomen, welches zu einer zentral induzierten erhöhten Schmerzempfindung führt. Die Modifikation der neuralen Signalverarbeitungsprozesse kann so weit gehen, dass Reize, die normalerweise nicht schmerzhaft sind, z.B. die Berührung der Haut mit einem Wattebausch, als schmerzhaft empfunden werden (Allodynie). Vereinfachend werden alle diese Prozesse als „Schmerzgedächtnis“ zusammengefasst, da wie bei einem Lernprozess die wiederholte Nutzung oder Aktivierung der Schmerzbahnen zu einer erleichterten Aktivierung führt. Klassische Beispiele für entzündlichen Schmerz sind der Wundschmerz nach einer Operation, Gelenkentzündungen, Kontusionen oder Phlegmonen.

Neuropathischer Schmerz

Nach einer Gewebeverletzung, vor allem mit Untergang zahlreicher peripherer (z. B. Amputation) oder zentraler Nervenfasern (z. B. Bandscheibenvorfall), mit Dehnung von Nervenfasern z.B. bei Operationen oder Infektionen, können neurochemische und neuroplastische Veränderungen innerhalb des Nervensystems auftreten, die spontane Signalübertragungen, also spontane Schmerzen, entstehen lassen. Dabei handelt es sich um pathologischen, maladaptiven Schmerz, der sich verselbständigt und für den Organismus schädlich ist. Klassische Beispiele für neuropathischen Schmerz sind der Amputationsschmerz, ein Rückenmarktrauma nach Bandscheibenvorfall, das Cauda Equina Syndrom oder Neuritiden.

Schmerz ist Schmerz

Warum ist es wichtig, die verschiedenen Schmerzarten zu unterscheiden? Analgetika und Anästhetika haben eine sehr unterschiedliche Wirksamkeit bei den verschiedenen Schmerzarten oder Schmerzmechanismen. Deshalb ist es für eine individuell angepasste multimodale Schmerztherapie wichtig, die richtigen Medikamentenklassen und begleitenden Maßnahmen auszuwählen.