Dr. Stephan Geldner: "Titanic-Effekt - ohne CT sieht man nur die Spitze des Eisbergs"
Ein im Notdienst vorgestellter Terrier-Rüde wurde nach einem Autounfall klinisch untersucht und geröntgt. Eine Beckenfraktur wird diagnostiziert. Durch die CT-Untersuchung zeigen sich noch weitere Frakturen.
Im Notdienst wurde uns ein Biewer Yorkshire Terrier mit 3,5 kg Körpergewicht vorgestellt, der wenige Stunden zuvor von einem Auto angefahren wurde. Der Rüde zeigte deutliche Schmerzen und konnte mit den Hinterbeinen nicht mehr auftreten, das rechte Hinterbein wurde komplett hochgezogen (Bild 1). Im Bereich des Beckens und der Oberschenkelmuskulatur waren ausgeprägte Blutergüsse sichtbar. Herz, Kreislauf und Atmung waren nicht beeinträchtigt, das Abtasten des Bauchraumes war nur im hinteren Bereich schmerzhaft. Der letzte Urinabsatz war nicht sicher bekannt.
Bei der Untersuchung der Gliedmaßen und des Rückens fiel eine deutliche Krepitation (Reibegeräusch) im Bereich des rechten Beckens und des rechten Oberschenkels auf. Hinweise für neurologische (nervale) Ausfälle gab es nicht, die Reflexproben verliefen unauffällig.
Röntgen: Weichteilschwellungen im Beckenbereich
Auf der Röntgenaufnahme sind deutliche Weichteilschwellungen im Bereich des Beckens erkennbar. Die Harnblase ist fast vollkommen leer. Der rechte Beckenring im Bereich des Sitz- und Schambeins ist gebrochen, es sind auch kleinere Fragmentstücke erkennbar (Bild 2). Um die Durchgängigkeit des Beckenrings zu eruieren, wurde eine rektale Untersuchung durchgeführt. Der Beckenboden war stark geschwollen ohne fühlbare Spitzen durch mögliche Knochensplitter, die Blutergüsse verringerten seinen Durchmesser nur geringgradig.
In den nachfolgenden zwölf Stunden stand der Rüde unter tierärztlicher Überwachung und wurde entsprechend mit Schmerzmitteln versorgt. Dabei konnte eine Verletzung der Harnblase und Harnröhre ausgeschlossen werden, die Harnblase füllte sich in dieser Zeit gut und konnte problemlos katheterisiert werden, um Urin abzulassen.
Für die nächsten Tage stand nach der Stabilisierung des Patienten eine Operation im Raum. Es bestand die Überlegung, den Beckenboden chirurgisch zu versorgen, um eine schnellere Heilung zu erreichen. Am hinteren Beckenring setzt die Gesäßmuskulatur an. Dies führt dazu, dass bei Bewegung der Gliedmaße immer wieder Zug auf den hinteren Beckenboden ausgeübt wird, der zu Schmerzen führen kann. Dies sollte chirurgisch behoben werden. Daher wurde vor dem Eingriff noch eine CT-Untersuchung durchgeführt.
Erst durch die CT-Untersuchung wurde uns die Vielzahl der Brüche am Becken und dem Kreuzbein nach einem Autounfall aufgezeigt. Gravierende Verletzungen am Kreuzbein und der Hüftpfanne waren beim Röntgenbild allein nicht darstellbar."
Die Auswertung der CT-Aufnahmen bringt noch weitere gravierende Befunde ans Tageslicht, die im Röntgen nicht erkennbar waren.
Wie auf dem Bild 3 dargestellt, zeigt sich am hinteren Rand des Acetabulum (Gelenkpfanne) ein kleines Knochenstück, das nur dezent verschoben ist. Die Gelenkpfanne ist im gesamten vorderen Teil der Gelenkfläche intakt.
Auf der Abbildung (Bild 4 mit Pfeil) lässt sich eine Fraktur (Bruch) des Kreuzbeins mit einer geringgradigen Verschiebung darstellen. Diese verläuft in der Längsachse des Knochens und tangiert nur ganz gering den Rückenmarkskanal, in dem das Rückenmark und die Nerven verlaufen. Zusammen mit den Besitzern entschlossen wir uns, vorerst auf eine Operation zu verzichten und das Tier nur in einer Box ruhig zu halten, sowie die notwendigen Medikamente zu geben. Es sollte genauestens darauf geachtet werden, daß die normalen Körperfunktionen mit Urin- und Kotabsatz funktionierten und keine nervalen Ausfälle aufträten.
Bereits zwei Wochen nach der CT-Untersuchung berichteten die Besitzer bei einer Nachuntersuchung, dass der Rüde auf allen vier Beinen stehen und erste Schritte auch auf seinem rechten Hinterbein machen würde. Die Blutergüsse und Schwellungen waren weitgehend abgeklungen, die Schmerzhaftigkeit hatte deutlich nachgelassen. Kot- und Urinabsatz funktionierten problemlos ohne weitere Hilfe. Vier Wochen nach dem Unfall konnte er auf griffigem Untergrund seine ersten völlig selbständigen Gehversuche stabil durchführen (Bild 5.
Fazit: Erst durch die CT-Untersuchung wurde uns die Vielzahl der Brüche am Becken und dem Kreuzbein nach einem Autounfall aufgezeigt. Gravierende Verletzungen am Kreuzbein und der Hüftpfanne waren beim Röntgenbild allein nicht darstellbar.