Veränderungen des Gehirns beim Deprivationssyndrom

Ursachen, Auswirkungen und Lösungen

Hunde, die in einer reizarmen Umgebung aufgewachsen sind, haben ein erhöhtes Risiko, ein sogenanntes Deprivationssyndrom zu entwickeln. Symptome sind höhere emotionale Amplituden, die sich je nach Hund als gesteigerte Ängstlichkeit, aggressivem Verhalten, Hypo- und Hyper-Zuständen oder anderen Auffälligkeiten zeigen. Welche strukturellen Veränderungen führen zu diesen Verhaltensanomalien?

Veränderungen im Hundegehirn bei Deprivation

Studien zeigen, dass sowohl die Struktur als auch die Funktion des Gehirns bei Hunden mit Deprivationssyndrom signifikant verändert ist. Eigentlich auch kein Wunder, kommen unsere Nesthocker – im Vergleich mit Nestflüchtern – doch relativ unreif zur Welt. Blind, taub, nicht in der Lage zu stehen oder zu laufen. Hier hat die Natur dafür gesorgt, dass nach der Geburt eine besonders steile Lern- und Erfahrungskurve folgen muss. Nicht umsonst gehört der Hund zum anpassungsfähigsten Tier unserer menschlichen Kultur. Dieser Zuwachs an physischen wie mentalen Skills hängt mit der enormen Neuroplastizität des juvenilen Hundegehirns zusammen.

In dieser sensiblen Entwicklungsphase ist die Fähigkeit zur Bildung neuer neuronaler Verbindungen, zur synaptischen Umstrukturierung und zur Expression von Wachstumsfaktoren, wie BDNF besonders ausgeprägt. Diese hohe neuronale Formbarkeit ermöglicht es den Welpen, sich optimal an ihre spezifische Umwelt anzupassen und die notwendigen körperlichen und kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln. Die unreife Geburt erweist sich dabei als evolutionärer Vorteil, da sie eine maximal umweltangepasste Entwicklung ermöglicht. Besonders wichtig ist die primäre Sozialisationsphase von der 3. bis zur 16. Lebenswoche. Die Welpen begegnen vielen neuen Reizen und Situationen und setzten sich mit unterschiedlichen Gefühlen, wie z.B. Freude, Überraschung oder Frustration auseinander. Am Ende der mentalen Entwicklung steht im Idealfall die Entwicklung einer guten Resilienz. Bei Wölfen sorgt das Muttertier durch regelmäßige Umzüge (bis zu 7 Umzüge in den ersten 20 Wochen) dafür, dass die Umgebung sicher ist, aber auch mit immer mehr Reizen aufwartet.

Das Deprivationssyndrom ist eine Hirn-Entwicklungsstörung

Hunde, die in einer reizarmen Umgebung aufwachsen, aktivieren weniger Synapsen, was zu einem übermäßigen Abbau von nicht benötigten Nervenverbindungen führt (synaptisches Pruning). Während bei einer normalen Entwicklung in der Zeit zwischen der primären Sozialisierungsphase ein Drittel der Nervenverbindungen gelöscht werden, sind es bei Hunden in der Deprivation deutlich mehr. Die Veränderungen der Hirnentwicklung sind weitreichend und betreffen verschiedene Areale, bzw. führen zu Dysbalancen im Neurotransmittersystem. Das Resultat: ein weniger flexibles Gehirn mit einer geringeren neuronalen Plastizität und eine eingeschränkte Resilienz.

Das Deprivationssyndrom ist mehr als nur ein Verhaltensthema. Es ist eine tiefgreifende neurobiologische Veränderung, die betroffene Hunde daran hindert, angemessen auf neue Reize zu reagieren."

Dr. Astrid Schubert, SIRIUS Behavior Vets

Emotionale Auswirkungen und Gehirnareale

Patienten mit Deprivationssyndrom haben oft Schwierigkeiten, neue Erfahrungen zu verarbeiten und angemessen auf neue Reize zu reagieren. Auch davon betroffen sind für emotionale Verarbeitung wichtigen Hirnregionen, wie die Amygdala und der Hippocampus. Frühe Deprivation induziert eine signifikante Volumenzunahme des Amygdala-Komplexes. Die morphologischen Veränderungen korrelieren mit einer Hyperreaktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) und einer erhöhten Ausschüttung von Stressmediatoren, wie z.B. Cortisol. Auch diese Veränderungen können die extremen emotionalen Reaktionen und die hohe Stressanfälligkeit dieser Hunde erklären. Die durch reizarme Aufzucht verursachte Volumenreduktion des Hippocampus ergänzt den Negativ-Effekt. Seine Aufgabe ist das Vergleichen, Bewerten der einzelnen Situationen und daraus Lernerfahrungen für ähnliche Situationen zu bilden. So werden adaptive Verhaltensstrategien nur langsam erlernt.

Die groben Defizite der Hirnstruktur durch depriviertes Aufwachsen sind nicht reversibel aber es gibt „Good News“: Verhaltenstherapeutische Interventionen und Lernkonzepte, die weit über das übliche Hundetraining hinausgehen, fördern die neuronale Plastizität und helfen diesen Patienten dabei, ihr volles Potential zu entwickeln. Kurz: Auch ein Kaspar-Hauser Hund kann mit den richtigen therapeutischen Maßnahmen ein guter Begleiter werden.

Wenig Erfahrung führt zu Dauerstress im Alltag und psychosomatischen Erkrankungen

Unsere Patienten mit Deprivationssyndrom sind meist Hunde, die bei Züchter:innen nur in einem Zimmer aufgezogen wurden (z.B. Winterwürfe) oder Hunde, die in Zwingerhaltung aufwuchsen - diese Hunde haben häufig zu wenig Erfahrungen sammeln dürfen. Auch das Aufwachsen von Welpen in einem Tierheim oder in der Quarantäne kann diese Folgen haben. Die Fehlentwicklung des Gehirns durch reizarme Aufzucht kostet später mehr Energie, erzeugt häufigen Stress beim Vierbeiner und bewirkt letztendlich eine geringere Flexibilität sowohl im Gehirn und damit auch im Verhalten des Hundes. Der daraus resultierende chronische Stress kann zudem die Entwicklung psychosomatischer Erkrankungen begünstigen.

Halter:innen dieser Hunde kommen häufig an den Punkt, an dem ihnen Hundetrainer:innen nicht mehr weiterhelfen oder ein unpassendes Training das Verhaltensproblem sogar verstärkt. In solchen Fällen sind die behandelnden Tierärzt:innen die ersten Ansprechpartner:innen, die die medizinischen Aspekte beurteilen und bei Bedarf Fachtierärzt:innen für Verhaltensmedizin hinzuziehen können. Diese fachärztliche Expertise ermöglicht es, die Lernfähigkeit und Resilienz gezielt zu unterstützen und eine bessere Prognose für ein gutes Therapieergebnis zu erreichen.

Die Chemie der Psyche – Impulskontrolle und Motivation

Deprivierte Hunde zeigen auch Dysregulationen im Neurotransmittersystem, besonders bei Serotonin und Dopamin. Dies äußert sich in veränderter emotionaler Regulation, gestörter Impulskontrolle und Schwierigkeiten bei der Verhaltensanpassung. Die Neurotransmitter-Dysbalance kann sowohl zu überschießenden als auch zu gehemmten Reaktionen führen, abhängig von den betroffenen neuronalen Schaltkreisen. Die Gabe von Amphetamin (u.a. enthalten in der Droge „Speed“) kann eine der überschießenden Wirkung ähnliche Symptomatik erzeugen. Oder, wie eine Kundin so plastisch beschrieb: "Ich glaube mein Hund ist als Welpe in den Zaubertrank gefallen, er reagiert grundsätzlich drüber."

Nur in Kombination: Medikamente immer mit Verhaltenstherapie

Obwohl die Auswirkungen des Deprivationssyndroms weitreichend sind, zeigen Studien, dass das Management der Neurotransmitterspiegel auch durch richtige Ernährung, Nutraceuticals, Stressreduktion, Management und verhaltenstherapeutische Maßnahmen viele der negativen Auswirkungen des Deprivationssyndroms bei Hunden deutlich verbessern kann. Je nach Ausprägung können auch anxioloytische oder andere psychoaktive Medikamente notwendig sein, um die positive Entwicklung des Tieres zu unterstützen. So können selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) zwar bei der Imbalance helfen, sollten jedoch niemals ohne therapeutische Interventionen angewendet werden.

Take Home

Verständnis und Unterstützung für betroffene Hunde. Das Deprivationssyndrom ist mehr als nur ein Verhaltensthema. Es ist eine tiefgreifende neurobiologische Veränderung, die betroffene Hunde daran hindert, angemessen auf neue Reize zu reagieren. Diese Hunde brauchen weit über das normale Hundetraining gehende Therapietechniken und häufig gezielte verhaltensmedizinische Unterstützung, um ihr volles Potenzial zu entfalten und ein entspanntes Leben zu führen.