Christian J. Gabrielse: "Neue Arbeitskonzepte in der Tiermedizin."

Die Nachfrage nach telemedizinischen Leistungen ist, beschleunigt durch die Corona-Pandemie, die damit eingehergehenden Kontaktebeschränkungen und natürlich die explosionsartig gestiegene Haustierpopulation, seitens der Tierbesitzer:innen auch für deutsche Verhältnisse sehr gestiegen. Tierarzt Christian J. Gabrielse stößt es negativ auf, dass niedergelassene Tierärzt:innen dieses Betätigungsfeld bisher vollkommen vernachlässigt und berufsfremden Gruppen, wie beispielsweise "Dr. Sam" überlassen haben. Doch wer soll telemedizinische Beratungen übernehmen, vor allem, da die Nachwuchsprobleme in der Tierärzteschaft immer eklatanter werden. Gabrielse fordert neue Arbeitskonzepte in der Tiermedizin und hat nicht nur deswegen mit "Tierarzt Online" eine digitale Plattform für tiermedizinische Dienstleistungen gegründet. Für ihn ist es wichtig, dass vor allem Tierärzt:innen im Mutterschutz, in Elternzeit oder mit begrenzter Zeit tätig werden können. Zudem können Tierarztpraxen und -kliniken dieses digitale Forum in den eigenen Strukturen integrieren.

Herr Gabrielse, warum scheuen sich derzeit noch so viele Tierärzt:innen, ihre Arbeit auf telemedizinischer Basis anzubieten?

Christian J. Gabrielse: Ich denke, dass vor allem Unbekanntheit und fehlendes Wissen die größten Hemmnisse in der Tierärzteschaft sind. Neues wird immer noch oft skeptisch beäugt. Neben dem gering ausgeprägten technischen Knowhow sorgt auch die Angst vor Fehldiagnosen für Zurückhaltung bei der Anwendung der Telemedizin. Dieses Risiko ist aber bei sorgfältiger Anamnese auch nicht größer als bei anderen Beratungen.
 Durch die Überlastung der Praxen und Kliniken finden die Kolleg:innen allerdings auch keine Zeit, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen.

Wie groß ist denn mittlerweile die Tierarzt-Online-Familie, bzw. wie viele Tierärzt:innen haben Sie für Ihre Idee gewinnen können?

Christian J. Gabrielse: Wir sind dankbar, dass mittlerweile fast 300 Interessierte die Entstehungsgeschichte und die Fortschritte von tierarzt-online.org verfolgen. Das ist nicht selbstverständlich, weil die Entwicklung der Plattform schon einige Zeit dauert. Wir finanzieren uns komplett selbst. Die Entwicklung und Umsetzung der Idee geschieht parallel zur laufenden Praxisarbeit und meinem berufspolitischen Engagement. Bei der Realisierung des Konzepts erhalte ich inzwischen Unterstützung von Andrea Nawrath, die als Tierärztin und Mutter von drei kleinen Kindern die Lebenssituation vieler Tiermediziner:innen gut nachvollziehen kann. Wirstarten nun mit einer zweistelligen Anzahl an Kolleg:innen in der Anfangsphase. Uns ist es wichtig, gerade zu Beginn in einem engen Austausch mit den ersten Nutzer:innen der Plattform zu bleiben. Nur so können wir alle Kinderkrankheiten finden und behandeln, bevor die App an die breite Öffentlichkeit geht.

Wie funktioniert Tierarzt-Online? Wie setzen es Tierärzt:innen ein? Und was kann man verdienen?

Christian J. Gabrielse: "Tierarzt-online" ist eine Plattform, die Tierbesitzer:innen und Tierärzt:innen online verbindet. Sie basiert auf einer Web-App und kann so gerätunabhängig direkt im Browser genutzt werden. Die Tierhalter:innen legen für sich und ihre Tiere ein Profil an und können dann bei ihren eingetragenen Wunschtierärzt:innen einen Termin zur Videoberatung buchen. Sie können ihre Haustierärzt:innen auch zur Teilnahme an der App einladen, sollten sie noch nicht auf der Plattform registriert sein. 
Ebenso legen auch die Tierärzt:innen ein Profil für sich selbst und ggf. für ihre Mitarbeiter:innen an und können nach der Verifizierung frei wählen, wann sie Termine zur Buchung freigeben möchten. Sie können sich aber auch spontan auf „online“ stellen und eingehende Beratungswünsche annehmen.

Wir verstehen die App vor allem als Ergänzung der Sprechstunde. Videoberatungen eignen sich unter anderem hervorragend für alle planbaren Beratungen, bei denen das Tier nicht physisch untersucht werden muss. Das können z.B. Ernährungs-, Verhaltens- oder Operationsberatungen sein. Sie können die vielen langwierigen Telefonate ersetzen, die bisher noch oft die Sprechstunde unterbrechen und selten korrekt abgerechnet werden. Weitere Vorbesprechungen, Nachuntersuchungen und Verlaufskontrollen können in der Regel auch online erfolgen. Menschen (und ihre Tiere) in Quarantäne oder mit Mobilitätshindernissen bekommen so Zugang zu ihrer Tierärztin oder ihrem Tierarzt.

"Tierarzt-online" ist eine Plattform, die Tierbesitzer:innen und Tierärzt:innen online verbindet. Sie basiert auf einer Web-App und kann so gerätunabhängig direkt im Browser genutzt werden."

Christian J. Gabrielse

Wie sieht es mit der Abrechnung aus?

Christian J. Gabrielse: Die Videoberatungen werden direkt im Anschluss über einen Zahlungsdienstleister abgerechnet und dem Account gutgeschrieben. Die Abrechnung erfolgt nach der GOT. Die Höhe der Beratungsgebühr und damit ihrer Einnahmen bestimmen die Tierärzt:innen grundsätzlich selbst über den ausgewählten Gebührensatz. 
Ein Beispiel: Die Beratung ohne Untersuchung kann bei Berechnung nach dem einfachen Satz mit 7,04 Euro angesetzt werden, die Zeitgebühr schlägt bei einem 15-minütigen Gespräch mit 16 Euro zu Buche. Macht 23,04 Euro netto für eine viertelstündige Beratung. Wenn statt dem einfachen der von uns empfohlene 1,8-fache Satz zugrunde gelegt wird, kostet eine 15-minütige Online-Beratung durch erfahrene Tierärzt:innen den Tierbesitzer 49,35 Euro inkl. der gesetzlichen Mehrwertsteuer. 
Für die Nutzung des Online-Systems (15 %) sowie der Finanzdienstleistung (5 %) entstehen Kosten in Höhe von in unserem Beispiel 8,29 Euro zuzüglich der gesetzlichen Mehrwertsteuer. Somit verdienen die Tierärzt:innen bei 1,8-fachem Gebührensatz mit einer viertelstündigen Beratung 33,18 Euro netto.

Sie sagen, dass Tierärzt:innen im Mutterschutz, in Elternzeit oder Alleinerziehende Vets die Telemedizin bestens für sich nutzen können.

Christian J. Gabrielse: Das ist einer der großen Vorteile der Digitalisierung. Homeoffice bietet vielen Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit, weiter an der Berufswelt teilzuhaben. 
In vielen kleinen und mittelgroßen Praxen gibt es keine Möglichkeit, Schwangeren und Stillenden einen sicheren Arbeitsplatz zu bieten. Somit rutschen sie oft ungewollt ins Beschäftigungsverbot. Wer dann nach der Geburt verständlicherweise die Betreuung des Kindes bevorzugt und in Elternzeit geht, verliert oft den Anschluss in einem sich so schnell entwickelnden Beruf. Für sie ist die Telemedizin eine komfortable Alternative zur Arbeit in der Praxis oder Klinik.

Und wie geht's weiter?

Christian J. Gabrielse: Wir stehen am Anfang unseres Projektes "Tierarzt Online", und es gibt noch viele Ausbaustufen unseres Konzeptes. Bereits heute laufen mit verschiedene Tierarzt-Organisationen Gespräche, wie der Tierärztekammer Nordrhein als Anbieter von Web-Seminaren oder DiploVets als fachliche Unterstützung für uns Tierärzt:innen. 
Weiterhin ist mittelfristig die Implementierung eines cloudbasierten Praxisverwaltungssystems geplant, um die Möglichkeit einer differenzierten Abrechnung umzusetzen. Gleichzeitig wird somit eine zentrale digitale Patientenakte, ebenfalls cloudbasiert, aufgebaut. Alle teilnehmenden Kolleg:innen können dann auf die Daten zugreifen und zusammenarbeiten! Eine Überweisung, eine Behandlung im Notdienst oder die Rücküberweisung sind somit völlig unkompliziert. 
Das Ziel und gleichzeitig der Weg dorthin ist eine Gemeinschaft von Tierärzt:innen und Tierbesitzer:innen aufzubauen, die sich über eine digitale Plattform zum Wohle der Tiere austauschen können. Außerdem sollen so viele approbierte Tierärzt:innen die Möglichkeit haben, ihren Beruf selbstständig, fair honoriert und zeitlich flexibel ausüben zu können.

Vielen Dank für dieses interessante Gespräch.