Plötzliche Ohnmachtsanfälle von Jack-Russel-Mischling "Kalle"
Irgendwie schien Kalles Pechsträhne nicht enden zu wollen. Musste er doch erst kürzlich wegen eines Kreuzbandrisses operiert werden. Und jetzt wurde Frauchen nachts plötzlich wach, weil der 11-jährige Jack-Russel-Mischling aus dem Bett gefallen war. Sie hatte gerade noch gesehen, dass Kalle steif auf der Seite lag, nicht ansprechbar war und eine kleine Lache Urin unter sich gelassen hatte. Bis sie selbst aus dem Bett gesprungen war und neben Kalle kniete, schaute er sie schon wieder verdutzt an und wedelte vorsichtig mit dem Schwanz. Was war das denn gewesen?
Die nächsten Tage verliefen in abwartender, etwas gedrückter Stimmung. Kalle hätte sein Beinchen nach der OP gerade wieder aufbauend belasten dürfen. Jetzt mit dem ersten Schnee wäre es doch zu schön gewesen, wieder richtig rumtollen zu können. Aber es passierte noch zwei Mal. Plötzlich klappten Kalle die Hinterbeine weg und er brach zusammen. Einmal zuckte der Kopf dabei ganz komisch und Kalle wurde nicht richtig bewusstlos, sondern nur furchtbar schwach und unsicher, ängstlich. Aber immer nach weniger als einer Minute berappelte er sich, stand auf und lief verdutzt davon. Aufgrund der Vorfälle suchte Kalles Besitzerin zunächst Rat in der Praxis, in der Kalles Kreuzbandriss operiert worden war, die sich an mich wandte. Als Tierkardiologin und Internistin betreue ich bei Bedarf Praxen und Kliniken bei schwierigen Fällen.
Anhand des Vorberichts war bei Kalle nicht ganz klar, ob es sich um Synkopen – durch eine Minderdurchblutung im Gehirn hervorgerufene Ohnmachtsanfälle – oder um Krampfanfälle handeln könnte. Bei Kalles Operation und Narkose waren keine Probleme aufgetreten.
Zunächst wurde Kalles Herzfunktion und der Herzrhythmus untersucht. Er wurde abgehört und eine Echokardiographie mit Elektrokardiogramm (EKG) angefertigt. Kalle musste für die Untersuchung auf der Seite auf einem speziellen Herzuntersuchungstisch liegen. Mit den beruhigenden Streicheleinheiten von Frauchen für Kalle kein Problem. Eine Narkose ist für diese Untersuchung nicht notwendig und auch nicht gewünscht, schließlich soll ein unverfälschter Eindruck vom Herzen gewonnen werden. Aber Kalles Herz war vollkommen in Ordnung. Die Herzfunktion stellte sich ohne Abweichungen dar und auch das EKG zeigte während der kompletten Untersuchung einen normalen Sinusrhythmus mit 150 Schlägen pro Minute. Kalles Frauchen war verunsichert.
Was hatte Kalle nur?
Ich konnte sie beruhigen, denn nicht selten treten Rhythmusstörungen paroxysmal, also plötzlich und anfallsartig auf und können nur über ein Langzeit-EKG, ein sogenanntes Holter, entdeckt werden. Kalle müsste dazu mit Klebeelektroden am Brustkorb und einem Aufnahmegerät am Rücken versehen werden und könnte den restlichen Tag zu Hause unter Frauchens Aufsicht verbringen. „Idealerweise“ zeigte er einen erneuten Kollaps während der Aufzeichnungszeit. Davor sollten noch Kalles Blutwerte inklusive Elektrolyte sowie sein Blutdruck überprüft werden. Auch hier befand sich alles im Normbereich.
Verkabelt und verklebt …
Also wurde Kalle von oben bis unten verkabelt und verklebt und das Ganze mit einem schicken Brustkorbverband geschützt. Ein bisschen skeptisch gucken musste er deswegen schon. Am nächsten Tag erschien Kalle samt Frauchen aufgelöst schon am Vormittag. Kalle war in der Nacht und am Morgen drei Mal kollabiert! Die Holter-Auswertung zeigte komplette Ausfälle der Herztätigkeit mit Stillständen bis zu 9,8 Sekunden! Das bedeutet, dass fast 10 Sekunden kein Blut in Kalles Kreislauf gepumpt wurde. Ab einer Dauer von circa sechs Sekunden führt dies zur Minderdurchblutung des Gehirns und damit zum Bewusstseinsverlust. Armer Kalle! Die Diagnose Sick Sinus Syndrom konnte gestellt werden.
Das Sick Sinus Syndrom gehört zu den Sinusknotenerkrankungen, bei dem es zur idiopathischen Degeneration und Fibrose des Sinusknotens kommt. Der Sinusknoten ist der endogene Schrittmacher im Körper, der den Rhythmus und die Herzfrequenz vorgibt. Ein Impuls wird vom rechten Vorhof an die Hauptkammerscheidewand übertragen und führt schließlich zur Kontraktion der Hauptkammern. Fällt der Sinusknoten aus, kommt es zunächst zu einer Pause bis das Reizleitungssystem in den Hauptkammern den Ausfall bemerkt und eine eigene Erregung induziert. Diese wird als Ersatzschlag bezeichnet und ist der Notfallplan für das Weiterschlagen des Herzens und das Überleben.
Viele Patienten mit einem Sick Sinus Syndrom leiden neben Phasen eines Sinusstillstandes auch an Phasen supraventrikulärer Tachykardien, bei denen das Herz von den Vorhöfen ausgehend zu schnell schlägt. Dazwischen werden unangemessene Sinusarrhythmien und Sinusbradykardien mit unregelmäßigen und insgesamt zu langsamen Rhythmen beobachtet. Dies wird als Bradykardie-Tachykardie-Syndrom bezeichnet. Eigentlich sind vor allem der Westie, der Zergschnauzer und der Cocker für ein Sick Sinus Syndrom prädisponiert, aber es kann auch andere ältere, kleine Rassen wie Kalle treffen.
54% der Patienten können rein medikamentös mit herzfrequenzsteigernden Medikamenten stabilisiert werden, bei 30% ist eine dauerhafte Schrittmacherimplantation notwendig. Neben dem AV-Block 3. Grades ist das Sick Sinus Syndrom der häufigste Grund für eine Schrittmacherimplantation beim Hund, die mittlerweile an Universitäts- und auch an manchen privaten Kliniken standardmäßig durchgeführt wird. Komplikationen wie Thrombosen, Infektionen, Dislokationen oder Serome sind selten.
Bei Kalle reichte erfreulicherweise eine rein medikamentöse Therapie mit Parasympatholytika und Sympathomimetika aus, um eine Stabilisierung zu erreichen. Er muss zwar jetzt dreimal täglich Tabletten schlucken, ist aber seitdem symptomfrei, und Frauchen traut sich nun auch schon wieder an lange Spaziergänge. Und sollten die Medikamente nicht mehr ausreichen, weiß sie, dass Kalle ein Schrittmacher helfen kann. Das Sick Sinus Syndrom hat insgesamt eine gute Prognose, ein plötzlicher Sekundentod dadurch ist sehr selten, und über 50% der Patienten können rein medikamentös erfolgreich behandelt werden.