Medical Training: Weit mehr als nur Gewöhnung an Behandlungsgriffe

Wenn wir über Medical Training sprechen, befinden wir uns an einer Schnittstelle, an der verhaltensmedizinisches Wissen und klinische Praxis aufeinandertreffen – und genau in diesem Spannungsfeld liegt ein enormes, oft unerschlossenes Potenzial für die moderne Kleintierpraxis. Allzu oft wird es auf eine simple Gewöhnung an Untersuchungs- und Behandlungsgriffe reduziert, während der eigentliche psychologische und neurobiologische Tiefgang dieses Konzepts verkannt bleibt. Dabei könnte ein fundiertes Medical Training die Grundlage für eine moderne, stress- und zwangsarme Praxisführung bilden – mit erheblichen Vorteilen für Patienten, Besitzer:innen und nicht zuletzt das Praxisteam.

Der neurologische Teufelskreis der Tierarztangst

Die neurobiologischen Grundlagen einer Tierarztphobie sind inzwischen gut erforscht. Das limbische System als zentraler Verarbeitungsort emotionaler Erfahrungen reagiert besonders sensitiv auf aversive Reize im Praxiskontext. Bereits eine einzige negative Erfahrung kann zu einer permanenten Sensibilisierung führen, bei der die Amygdala als "emotionales Alarmsystem" übermäßig aktiviert und der rationale präfrontale Kortex in seiner Regulationsfunktion gehemmt wird. Kurz: Hier stößt gutes Zureden oder ein strenges „Sitz“ auf taube Ohren beim Patienten!

Besonders dramatisch: Die chronische Stressreaktion führt zur vermehrten Ausschüttung von Cortisol, das langfristig die Hippocampus-Funktion beeinträchtigt und damit das emotionale Gedächtnis nachhaltig verändert. Die Folge ist eine Spirale aus Angst, gesteigerter Schmerzwahrnehmung (!), Kontrollverlust und weiterer neurochemischer Dysregulation, die mit jedem Tierarztbesuch verstärkt werden kann. Dieses neurophysiologische Geschehen bildet die Basis für die klinisch manifeste Angstreaktion, die wir alle kennen – vom zitternden Welpen bis zum defensiv-aggressiven Rüden.

Selbstwirksamkeit: Der unterschätzte psychologische Faktor

Was dem traditionellen Ansatz der "Gewöhnung" oft fehlt, ist das psychologische Konzept der Selbstwirksamkeit. Dieses aus der Humanpsychologie stammende Prinzip beschreibt das grundlegende Bedürfnis, Kontrolle über die eigene Situation zu haben und durch eigenes Handeln Einfluss auf Ereignisse nehmen zu können. Die Bedeutung der Selbstwirksamkeit kann kaum überschätzt werden: Ein Patient, der während einer Behandlung jegliche Kontrolle verliert, erfährt nicht nur Angst, sondern eine tiefe Form der Hilflosigkeit. Diese erlernte Hilflosigkeit – ein gut untersuchtes Phänomen – führt zu nachhaltiger Verhaltenshemmung, gesteigerter Ängstlichkeit und sogar Depressionsäquivalenten bei unseren tierischen Patienten.

Medical Training in seiner vollständigen Form adressiert genau diesen Aspekt, indem es dem Tier ermöglicht, durch aktive Kooperation Einfluss auf den Behandlungsverlauf zu nehmen. Es handelt sich also nicht um passive Duldung, sondern um aktive Mitwirkung – ein fundamentaler Unterschied für die emotionale Verarbeitung.

Es ist an der Zeit, Medical Training als das zu begreifen, was es ist: Nicht ein nettes Beiwerk, sondern ein zentraler Bestandteil einer zeitgemäßen Praxisführung, der auf soliden neurobiologischen und verhaltenspsychologischen Grundlagen steht."

Dr. Astrid Schubert, Zentrum für Verhaltensmedizin und -therapie SIRIUS Behavior Vets

Die neurobiologische Dimension spezifischer Schmerzreize

In der Praxis stellen wir fest, dass bestimmte Schmerzmodalitäten besonders traumatisierend wirken. An erster Stelle sind hier brennende Injektionsschmerzen zu nennen, wie sie bei Präparaten wie Butylscopolaminiumbromid, Bromhexinhydrochlorid, Maropitant (z.B. Buscopan, Bisolvon oder Cerenia/Prevomax) auftreten können.

Warum reagieren Tiere auf diese spezifische Schmerzqualität besonders intensiv?

Die Antwort liegt in der evolutionsbiologischen Bedeutung brennender Schmerzen. Anders als ein mechanischer Schmerz signalisiert ein brennendes Gefühl die potenzielle Exposition gegenüber Toxinen oder ätzenden Substanzen – ein biologisches Warnsignal höchster Priorität. In der Studie von Patapoutian et al. (2019) wurde die spezifische Rolle der TRPV1-Rezeptoren untersucht, die sowohl auf Hitze als auch auf bestimmte chemische Irritantien reagieren und eine hochspezifische Aversionsreaktion auslösen, die neurobiologisch mit der Reaktion auf bedrohliche Stimuli wie Schlangen oder andere natürliche Prädatoren vergleichbar ist.

Schmerzempfinden im Kopfbereich wird bedrohlicher bewertet

Ebenso kritisch sind Schmerzreize im Kopfbereich zu betrachten. So sind nicht selten Untersuchungen der akuten Otitis die Quelle einer dauerhaften Angst vor dem Besuch in der Tierarztpraxis. Verständlich ist, dass man sich von dem intakten Trommelfell durch otoskopische Untersuchung überzeugen will (und muss), um den Einsatz bestimmter Medikamente zu ermöglichen.

Doch die kritische Frage muss erlaubt sein: Muss das am gleichen Tag sein?

In den 20 Jahren Praxiserfahrung im TGZ München haben wir Hunde und Katzen mit großer entzündungsbedingter Schmerzhaftigkeit der Ohren zunächst mit einer NSAID-Behandlung nach Hause entlassen, um zwei Tage später eine deutlich entspanntere und weniger traumatisierende Untersuchung und Behandlung durchzuführen. Abgesehen von der doppelten Anfahrt für die Kund:innen hat sich diese Technik nicht als nachteilig erwiesen – im Gegenteil, sie verhindert oft den ersten kritischen Schritt in Richtung einer Tierarztphobie.

Die Humanmedizin liefert hierzu aufschlussreiche Daten: In der Meta-Analyse von Henderson et al. (2021) wurde gezeigt, dass Schmerzen im kraniofazialen Bereich konsistent als intensiver und bedrohlicher bewertet, werden als vergleichbare Schmerzreize in anderen Körperregionen. Die evolutionsbiologische Erklärung liegt auf der Hand: Der Kopf beherbergt die lebenswichtigen Sinnesorgane sowie das Zentralnervensystem – seine Integrität ist für das Überleben essentiell.

Jenseits von "Happy Visits": Systematisches Desensibilisierungstraining in der eigenen Praxis

Die oft bemühten "Happy Visits" – der unverbindliche Besuch in der Praxis ohne Behandlung – stellen bestenfalls einen ersten Schritt dar, greifen jedoch zu kurz. Der Grund hierfür liegt in der kontextspezifischen Natur von Angstreaktionen. Studien zur Expositionstherapie zeigen eindeutig, dass eine erfolgreiche Desensibilisierung im tatsächlichen Angstkontext stattfinden muss.

Hieraus ergibt sich zwingend, dass ein effektives Training nicht an externe Trainer:innen "outgesourct" werden kann. Die Schlüsselfaktoren für den Erfolg liegen in der authentischen Praxisumgebung mit ihren spezifischen Gerüchen, Geräuschen und Abläufen. Diese kontextuelle Spezifität macht es notwendig, entsprechend geschultes Personal im eigenen Team zu haben, das sowohl die fachlichen Anforderungen als auch die verhaltensbezogenen Aspekte versteht.

Konkrete Implementierung in der Praxis - spezialisierte Teammitglieder

Ein modernes Medical-Training-Programm sollte drei Hauptkomponenten umfassen:

  1. Systematische Desensibilisierung: Beginnend mit einer detaillierten Verhaltensanamnese werden kritische Stimuli identifiziert und in einem stufenweisen Programm mit positiver Verstärkung bearbeitet.
  2. Aufbau von Kooperationssignalen: Anders als bei einer reinen Desensibilisierung werden hier aktive Kooperationsverhaltensweisen aufgebaut, die dem Tier Kontrolle über den Prozess geben. Hierzu zählen beispielsweise ein freiwilliges Hinhalten der Pfote für eine Blutentnahme oder ein stabiles "Chin Rest" für Augenuntersuchungen.
  3. Integration in den Praxisalltag: Entscheidend ist, dass das gesamte Team die Prinzipien des Medical Trainings versteht und respektiert. Ein schmerzhafter Eingriff ohne Rücksicht auf die erarbeitete Kooperationsbasis kann monatelange Trainingsarbeit zunichtemachen.

Fazit

Die moderne Tierarztpraxis muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass Angst und Zwang unvermeidliche Begleiter tierärztlicher Behandlung sind. Medical Training in seinem vollen Umfang – mit Fokus auf Selbstwirksamkeit, neurobiologischem Verständnis und systematischer Umsetzung – stellt eine Investition dar, die sich mehrfach auszahlt:

  • Reduzierte Belastung für Patienten mit nachweislich besseren Behandlungsergebnissen
  • Höhere Besitzerzufriedenheit und Compliance
  • Verringerter Stress und erhöhte Sicherheit für das Praxisteam
  • Differenzierung im Wettbewerbsumfeld durch einen wissenschaftlich fundierten Ansatz

Es ist an der Zeit, Medical Training als das zu begreifen, was es ist: Nicht ein nettes Beiwerk, sondern ein zentraler Bestandteil einer zeitgemäßen Praxisführung, der auf soliden neurobiologischen und verhaltenspsychologischen Grundlagen steht.

Literatur

  • Patapoutian, A., Tominaga, M., & Julius, D. (2019). TRP channels and thermosensation. Nature Reviews Neuroscience, 20(7), 494-517.
  • Henderson, L. A., Akhter, R., Youssef, A. M., et al. (2021). The effects of catastrophizing on central motor activity and pain perception in facial pain. Pain, 162(8), 2307-2317.
  • Herron, M. E., & Shreyer, T. (2014). The pet-friendly veterinary practice: a guide for practitioners. Veterinary Clinics: Small Animal Practice, 44(3), 451-481.