Verdachtsdiagnose: Idiopathische Epilepsie bei Labrador Happy​

„Familie S. wurde plötzlich durch ein befremdliches Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Schnell realisierten Sie, dass mit "Happy", ihrer zweijährigen Labradorhündin, etwas nicht stimmte. Sie eilten zu ihr und fanden sie auf der Seite liegend, mit verkrampften aber rudernden Beinen, Schaum vor dem Maul, Kieferschlagen und aufgerissenen Augen. Ansprechbar war sie nicht. Kurze Zeit darauf entleerte sich ihr Darm und ihre Blase, und der ganze Spuk war vorbei. Nach weiteren fünf Minuten war Happy wieder ganz die Alte."

So oder so ähnlich ist häufig der Vorbericht in der neurologischen Sprechstunde. Die Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen bei Hunden. Gekennzeichnet ist sie durch das wiederholte Auftreten von „Krampfanfällen“. Diese können sich von geringen Bewusstseinsstörungen (Ticks, Schwanzbeißen) über einfach fokale Anfälle (ohne Bewusstseinstrübung, Zuckungen) bis hin zu  generalisierten Anfällen mit Bewusstseinsverlust und tonisch-klonischen Krämpfen darstellen.

Der generalisierte Anfall verläuft in drei Phasen!

Die Aura (einleitende Phase) kann von wenigen Minuten bis zu einigen Tagen dauern. Häufig verändern die Hunde ihr Verhalten (anhänglicher, ängstlicher). Der Aura schließt sich der eigentliche Iktus an: die Tiere zeigen je nach Form des Anfalls eine Versteifung im gesamten Körperbereich, gefolgt von einer Überstreckung des Halses bis sie schließlich umfallen und mit tonisch-klonischen Krämpfen am Boden liegen. Bei manchen Hunden kann auch ein Bewusstseinsverlust sowie ein unkontrollierter Urin- und Kotabsatz beobachtet werden. Die Dauer ist meist nur wenige Minuten. Werden fünf Minuten überschritten oder treten mehrere Krämpfe hintereinander auf, bezeichnet man dies als Status epilepticus, welcher eine lebensbedrohliche Situation bedeutet. Das direkte Aufsuchen eines Tierarztes ist dann unerlässlich. Die anschließende postiktale Phase ( = Erholungsphase) kann wiederum wenige Minuten bis Tage dauern.

Jeder Anfall ist ernst zu nehmen und aus medizinischer Sicht die Ursache aufzuarbeiten. Neben der idiopathischen Epilepsie (genetisch oder ohne erkennbare Ursache) gibt es noch andere Formen wie die reaktiven / sekundären Anfällen infolge von Stoffwechselstörungen oder Vergiftungen sowie die strukturelle / symptomatische Epilepsie infolge von Veränderungen im Gehirn (Blutungen, Entzündungen, Tumore). Da das Erscheinungsbild eines Anfalls von Tier zu Tier stark unterschiedlich sein kann, hilft eine Videodokumentation ggf. in der Unterscheidung zwischen einem epileptischen Anfall und anderen möglichen Erkrankungen. Beim einzelnen Hund sind die Anfälle oft einander ähnlich, können sich im Verlaufe der Zeit aber auch verändern. Auch dies sollte dokumentiert und tierärztlich beurteilt werden.

Verdachtsdiagnose „idiopathische Epilepsie“

Als mir "Happy" vorgestellt wurde, hatte sie mittlerweile den dritten Anfall. Es begann die Aufarbeitung möglicher Ursachen. Seit 2015 gibt es von der International Veterinary Epilepsy Task Force (IVETF) eine empfohlene standardisierte diagnostische Herangehensweise bei Hunden mit Anfallsleiden.
Happy wurde allgemein untersucht. Dies galt dem Aus- bzw. Einschluss von anderen Erkrankungen, die ähnliche Symptome wie die Epilepsie auslösen. Anschließend wurde eine ausführliche neurologische Untersuchung durchgeführt, um Erkrankungen des Gehirns und oder systemischen Erkrankungen mit entsprechenden spezifischen neurologischen Veränderungen zu verifizieren. Ich beschreibe es meinen Kunden immer als „Puzzle“, welches wir schrittweise zusammensetzen. Manchmal reichen schon wenige Teilchen, um das Gesamtbild zu erkennen.  
Auch die anschließenden Blut- sowie Urinuntersuchungen waren bei Happy unauffällig. Es bestand daher aufgrund des Alters, der Rasse und der bisher unauffälligen Untersuchungsergebnisse der Verdacht einer idiopathischen Epilepsie. Um diesem Verdacht weiter nachzugehen wurde bei Happy eine MRT-Untersuchung des Gehirns und eine Liquoruntersuchung  durchgeführt, ebenso ohne Befund. Die Verdachtsdiagnose „idiopathische Epilepsie“ stand fest und Happy wurde auf ein Antiepileptikum eingestellt. In den folgenden zwei Jahren traten keine Anfälle mehr auf.  

Ein solch positiver Verlauf mit dem Erreichen einer Anfallsfreiheit tritt leider nicht immer ein. Daher ist es wichtig so früh wie möglich, entsprechende Ursachen aufzuarbeiten. Ich höre häufig den Satz „Ein Anfall ist kein Anfall“. Dieser allgemeinen Einschätzung eines ersten Anfalls stehe ich sehr kritisch gegenüber. Denn jeder einzelne Anfall kann dem Gehirn deutliche Schäden zufügen. Die frühzeitige Gabe eines Antiepileptikums verhindert somit gegebenenfalls eine klinische Verschlechterung.  

Ab nun kann für Tier und Besitzer eine sehr belastende und stressreiche Zeit beginnen: es müssen konsequent und vor allem regelmäßig Tabletten gegeben sowie tierärztliche Besuche mit Blutkontrollen eingehalten werden. Doch gerade diese belastenden Maßnahmen führen letztlich zu einer Verbesserung und Verlängerung der Lebensqualität des Hundes.

Quellen
1. International Verterinary Epilepsy Task Force (2015): Consesus proposal: diagnostic approach to epilepsy in dogs (cjaired by Prof. Luisa De Risio).BMC Vet Res 11:148.
2. Fischer A et al (2013): Die idiopathische Epilepsie des Hundes. Enke, 1. Auflage, Stuttgart