Tiermedizin trifft Genetik. Anfallsleiden – wann hilft uns ein Gentest?
Ein häufiger Grund für nächtliche Anrufe im Tiernotdienst sind krampfende Patienten. Plötzlich auftretende Anfallsleiden versetzen Tierbesitzer:innen in Panik. Es gilt dann, die Anrufer:innen zu beruhigen und das weitere Vorgehen mit ihnen zu planen. Hierzu gehört eine Aufarbeitung des Patienten mit dem Ziel, die Art des Anfalls sowie die Schwere der Erkrankung einzuschätzen und, wenn möglich, eine Ursache zu finden.
"VETAMIN-D“-Schema
Schnell fällt im Zusammenhang mit Krampfanfällen oder ähnlichen anfallsweise auftretenden neurologischen Ausfallserscheinungen die vermeintliche Diagnose Epilepsie, obwohl genau diese am Ende eine Ausschlussdiagnose sein sollte. Die Ursachen für Anfälle sind vielfältig. Bei der Erstellung einer Differentialdiagnosenliste hilft das sogenannte „VETAMIN-D“-Schema:
- V -> vaskulär
- E -> entzündlich
- T -> traumatisch
- A -> Anomalie
- M -> metabolisch
- I -> idiopathisch
- N -> neoplastisch
- D -> degenerativ
Zu den Untersuchungen, die diagnostisch zielführend sind, gehören neben der sehr wichtigen Aufnahme der Anamnese auch das Signalement (Alter, Rasse) und eine neurologische Untersuchung. Es folgen Blut-, Urin- und Liquoruntersuchung sowie bildgebende Verfahren (Röntgen, ggf. Ultraschall und MRT). Ziel der diagnostischen Aufarbeitung sind die Erstellung eines Therapieplanes und die Einschätzung der Prognose des Patienten. An dieser Stelle ist es sinnvoll, bei bestimmten Patienten ebenfalls über einen Gentestnachzudenken. Dies könnte z. B. die Diagnose Lafora-Epilepsie, die bei Hunden vieler Rassen auftritt, bestätigen oder den Hinweis auf eine zugrundeliegende Speicherkrankheit geben.
Viele angeborene Erkrankungen mit dem Symptom Anfall/Krampf führen schon bei Welpen zum Tode. Genvarianten, die erst bei erwachsenen Tieren ein Anfallsleiden verursachen, stellen eine größere diagnostische Herausforderung dar. Einmal mehr ist hier der Blick auf die Rasse und die dafür infrage kommenden genetisch bedingten Erkrankungen von größter Bedeutung.
In der Folge sollen einige dieser Genvarianten beschrieben werden, die auch bei adulten Hunden zu Anfallsleiden führen können und als Differentialdiagnosen zur Epilepsie aufgeführt werden.
Unter dem Lafora-Syndrom versteht man einen autosomal-rezessiv vererbten Defekt im Glykogenmetabolismus, der eine progressiv verlaufende myoklonische Epilepsie auslöst. Als Symptome wurden beschrieben: schlechte Sehkraft/ Blindheit, generelle tonisch-klonische Krampfanfälle, myoklonische Zuckungen (oftmals durch Licht, akustische Signale oder plötzliche Bewegungen im Sehfeld ausgelöst), Panikattacken, Demenz, Aggressionen sowie im späteren Verlauf Kot- und Harninkontinenz. Die ersten Symptome zeigen sich meist ab einem Alter von 7 Jahren. Da es sich um eine progressive Erkrankung handelt, nimmt die Frequenz und die Stärke der Anfälle mit der Zeit zu.
Bei folgenden Rassen kann die Lafora-Epilepsie nachgewiesen werden: Basset Hound, Beagle, Chihuahua, Französische Bulldogge, Dackel (Kurzhaar-, Langhaar-, Rauhaar-), Neufundländer, Welsh Corgi (Cardigan/Pembroke). Da die Variante auch in vielen, zum Teil nicht nahe-verwandten Rassen nachgewiesen werden konnte, erscheint die Testung eines Hundes anderer Rassen mit Lafora-Symptomen für die Bestätigung bzw den Ausschluss sinnvoll.
Eine genetisch bedingte, anfallsweise auftretende Bewegungsstörung beim Cavalier King Charles Spaniel ist Episodic Falling. Diese neurologische Erkrankung ist charakterisiert durch Anfälle, in deren Verlauf es durch erhöhte Muskelspannung zur Steifheit der Beine bis hin zum Kollaps kommt. Die Episoden können durch Anstrengung, Stress oder Aufregung ausgelöst werden, wobei die klinischen Symptome in ihrer Schwere variieren. Erste Anfälle treten im Alter zwischen 14 Wochen und 4 Jahren auf. Der Exercise Induced Collapse ist eine neuromuskuläre Erkrankung, die beim Labrador Retriever und eng verwandten Rassen auftritt. Das erste Anzeichen eines Exercise Induced Collapse (EIC) sind ein schaukelnder oder verkrampfter Gang, der Hund wirkt steifbeinig. Erkrankte Hunde entwickeln schon nach 5 – 15 Minuten Anstrengung (z. B. beim Training oder bei starkem Stress) eine Muskelschwäche und kollabieren. Bei den meisten Hunden ist vor allem die Hinterhand betroffen, bei manchen setzt sich die Schwäche auch bis zu den Vorderläufen fort und führt somit zum Festliegen. Während eines Kollapses sind die Hunde meistens bei Bewusstsein, je nach Schweregrad der Erkrankung kann es aber auch vorkommen, dass sie desorientiert oder vorübergehend bewusstlos sind. EIC kann jahrelang unentdeckt bleiben, wenn der Hund keinem anspruchsvollen Training oder starkem Stress ausgesetzt ist.
Bei den entzündlichen Ursachen für ein Anfallsleiden sind u.a. die nekrotisierende Meningoenzephalitis (NME) beim Mops, die subakute nekrotisierende Enzephalopathie beim Yorkshire Terrier und die Leukenzephalomyelopathie (LEMP) bei verschiedenen Rassen genetisch bedingt. Die Enzephalitis beim Mops (NME) ist eine erbliche Autoimmunerkrankung, die sich in einer schweren Entzündung des zentralen Nervensystems äußert. Dabei kommt es zu einer genetisch festgelegten Überreaktion des Immunsystems, bei der Nervenzellen des Gehirns geschädigt werden. Betroffene Hunde zeigen die ersten Symptome normalerweise in einem Alter von sechs Monaten bis zu drei Jahren. Diese äußern sich in Orientierungslosigkeit, Krämpfen und Zusammenbrüchen. Erkrankte Hunde neigen oder schütteln ihren Kopf, zittern, zeigen einen wackeligen Gang, stolpern und fallen häufig. Auch Kreislaufen oder vermutlich schmerzbedingtes Kopfkratzen werden beobachtet. Völlige Verwirrung und Koma sind späte Symptome. Der Hund stirbt 3-6 Monate nach dem Auftreten der ersten Symptome.
Die subakute nekrotisierende Enzephalopathie (SNE) beim Yorkshire Terrier ist gekennzeichnet durch einen abnormalen Gang, Ataxie und Spastizität sowie zentralnervöse Seh- und Wahrnehmungsstörungen. Erste Symptome treten im ersten Lebensjahr auf. Auch diese Erkrankung führt letztlich zum Tod.
Die Leukoenzephalomyelopathie (LEMP) ist eine neurodegenerative Erkrankung der weißen Substanz des zentralen Nervensystems (ZNS) bei Leonbergern, Rottweilern und Deutschen Doggen. Durch Läsionen in der Myelinscheide kommt es zu Störungen in der Nervenleitung. Typische Symptome dieser Enzephalopathie sind Koordinations- und Bewegungsstörungen. Die ersten Symptome treten bei LEMP im Alter von 1 - 3 Jahren auf und nur wenige Monate später können die betroffenen Hunde weder aufstehen noch laufen.
Speicherkrankheiten gehören zu den degenerativen Ursachen einer Anfallserkrankung. Mittels Gentest können die neuronale Ceroidlipofuszinose und die L-2-Hydroxyglutaracidurie nachgewiesen werden. Bei der neuronalen Ceroidlipofuszinose (NCL) handelt es sich um eine neurodegenerative Erkrankung aufgrund von lysosomalen Speicherdefekten. Klinische Symptome sind zuerst Verhaltensänderungen (Unruhe, Aggressivität, Angst). Die Hunde können auch unter epileptischen Zuständen und Sehstörungen leiden. Die meisten Tiere verlieren die Fähigkeit, die alltäglichen Muskelaktivitäten wie Fressen und Laufen zu koordinieren. Das Alter, in dem die Erkrankung beginnt, sowie der Schweregrad können stark variieren. Beim Tibet Terrier treten die ersten Symptome im Erwachsenenalter auf. Mit zunehmender Neurodegeneration entwickeln alle betroffenen Hunde Verhaltensabnormalitäten und Ataxie. Folgende Rassen können erkranken und getestet werden: American Bulldog, Border Collie, English Setter, Golden Retriever, Gordon Setter, TibetTerrier, Cane Corso Italiano, Chinese Crested, Chihuahua, Saluki, Australian Cattle Dog, Australian Shepherd, Miniature American Shepherd, Dackel, American Staffordshire Terrier.
Die L-2-Hydroxyglutaracidurie (L-2-HGA) ist eine neurometabolische Erkrankung, die durch erhöhte Spiegel an L-2-Hydroxyglutarsäure im Urin, Plasma und in der Zerebrospinalflüssigkeit charakterisiert ist. L-2-HGA verursacht schwere Störungen im Bereich des zentralen Nervensystems. Erste klinische Anzeichen treten gewöhnlich im Alter von 6 Monaten bis zu 1 Jahr (teilweise auch erst zu einem späteren Zeitpunkt) auf. L-2-HGA ruft eine Vielzahl von neurologischen Defiziten wie psychomotorische Retardierung, Anfälle und Ataxie hervor. Weitere Symptome sind Muskelsteifigkeit nach Belastung oder Aufregung und Verhaltensänderungen.
Eine Sonderstellung unter den genetisch bedingten neurologischen Erkrankungen mit anfallsweise auftretenden Symptomen bildet die Katalepsie/Narkolepsie. Auch sie gehört zu den Differentialdiagnosen zur Epilepsie. Die Narkolepsie ist eine neurologische Erkrankung, die sich durch Tagesschläfrigkeit mit einem unwiderstehlichen Schlafdrang zu völlig falschen Zeiten auszeichnet. Das Tier leidet unter Schlafattacken, Kataplexie und Schlaflähmung, welche teilweise dem REM-Schlaf ähnelt. Die Anfälle dauern nur wenige Sekunden bis 2 Minuten, treten aber bis zu hundertmal am Tag auf. Nach dem ersten Auftreten stellt sich meist schnell ein Plateau in Bezug auf Schwere, Dauer und Häufigkeit der Anfälle ein und eine weitere Progression bleibt aus. Verursacht wird diese Erkrankung durch eine Mutation in dem Gen für den Hypocretin (Orexin)-Rezeptor 2, nachweisbar bei Dackel (Kurzhaar-, Langhaar-, Rauhaar-), Dobermann, Labrador Retriever. Nach Diagnosestellung mit einer Gentestung sprechen Kataplexie- bzw. Narkolepsiepatienten relativ gut auf eine angepasste medikamentöse Therapie an.
Fazit
Bei der Aufarbeitung eines Anfallsleidens beim Hund sind Alter und Rasse des Patienten von großer Wichtigkeit. Neben der neurologischen Untersuchung, der Bildgebung und den klassischen Laboruntersuchungen sollten bei vielen Patienten Gentests nicht vergessen werden. Sie können in manchen Fällen eine Diagnose sichern und bei Therapieplanung und prognostischer Einschätzung hilfreich sein.
Weitere Infomationen: Tiermedizin trifft Genetik (laboklin.de)