Das neue Hygienezeitalter?

Portrait Dr. Malte Regelin
von Dr. Malte Regelin – 19.10.2021

Lektionen aus der COVID-19-Pandemie vor dem Hintergrund des One-Health-Ansatzes

Das wohl bedeutendste epidemiologische Ereignis der Moderne jährt sich nun bald zum zweiten Mal. Seine Folgen sind weiterhin schwer abzuschätzen. Längst hat sich ein neuer Alltag herausgebildet, der aus einer Melange aus Home Office, stockenden Lieferketten, Hygienemaßnahmen und Infektionskontrolle besteht. Gerne wird darüber geredet, dass uns die Pandemie ein neues, besseres Verhältnis zur Hygiene gelehrt hat. Aber was hat sich wirklich geändert und wie können wir als tierliebe Gesellschaft im Zeitalter von One Health darauf aufbauen?

Gesundheit riskieren

Was sich mit Sicherheit attestieren lässt, ist eine erhöhte Bereitschaft bei den Menschen, sich die Hände zu waschen und Desinfektionsmittel anzuwenden. Möglichkeiten zur Händedesinfektion haben sich zum Standard entwickelt und sind so gut wie in jedem öffentlich zugänglichem Gebäude zu finden. Auch das Tragen von Masken ist Teil dieses neuen, hygienischen Alltags, sind jedoch immer wieder Gegenstand großer Kontroversen. Die gewichtigsten Argumente, die sowohl von Befürwortern als auch Gegnern herangezogen werden, drehen sich alle um die zentrale Frage, ob die reale und unmittelbare Möglichkeit einer Ansteckung besteht. Diese Frage – so trivial sie erscheinen mag – kann auch als Kern jedes Hygienekonzeptes angesehen werden: Geht in meinem Umfeld ein Risiko von einem Infektionserreger aus? Denn die Umsetzung einer Hygienemaßnahme ist immer auch mit Aufwand verbunden, und ob man diesen Aufwand zu betreiben bereit ist, hängt mit dem Risiko zusammen, dem man sich ausgesetzt sieht. Gute Hygienekonzepte berücksichtigen daher auch die Abwägung zwischen Risiko und Nutzen.

„Ist nicht schlimm, ist kein COVID!“

Die Abschätzung eines solchen Risikos ist aber keineswegs einfach und stellt eine ganze Reihe von Anforderungen an diejenigen, die sie im Einzelfall zu treffen haben. So erfordert sie unter anderem ein gutes Verständnis für die Ausbreitungswege von Infektionskrankheiten. Neben Kenntnissen der jeweiligen Situation und möglichen Übertragungswegen, die daraus resultieren können, bedarf eine Risikoabwägung aber auch der Fähigkeit zur Abstraktion. Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung laufen Gefahr, eben nur als spezielle Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des COVID-19-Erregers SARS-CoV-2 wahrgenommen zu werden, obwohl sie doch aber prinzipiell Regeln darstellen, die geeignet sein können, auch die Ausbreitung vieler weiterer Infektionskrankheiten zu stoppen. Die gewünschte Abstraktion wäre hier, dass die Hygienemaßnahmen als allgemein sinnvoll erkannt werden. Zur Veranschaulichung dieses Abstraktionsproblems lassen sich die anhaltend hohen Infektionszahlen mit Rhinoviren und anderen Atemwegsinfektionen in der deutschen Bevölkerung heranziehen. In der Theorie sollte die Ausbreitung aller viralen Pathogene durch die getroffenen Maßnahmen mehr oder weniger eingedämmt sein. Doch sofern Abstand und Händehygiene fallengelassen werden, sobald sich alle Bezugspersonen einig sind, dass keiner der Anwesenden SARS-CoV-2 hat, bleiben Tür und Tor für die übrigen Erreger geöffnet, weil in der Hygienekommunikation versäumt wurde, auf der Abstraktionsebene die normale „Erkältung“ miteinzubeziehen. Gute Hygienekonzepte berücksichtigen daher auch die Abstraktionsebene und zeigen dadurch ihren universellen Nutzen auf.

Familienmitglied Haustier

Die zuvor geschilderten Änderungen werden meist noch sehr anthropozentrisch diskutiert. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass COVID-19 eine Krankheit ist, von der sich nur der Mensch gefährdet sieht. Berührungspunkte zur Tierwelt werden nur dann hergestellt, wenn es um die vermutlich zoonotische Herkunft von SARS-CoV-2 geht. Lehren für unser Verhalten beschränken sich deshalb meist auf Diskussionen über die Sinnhaftigkeit der Massentierhaltung und verbesserte Hygienemaßnahmen durch Änderung der Haltungsbedingungen. Im Umgang mit Haustieren führte die Auseinandersetzung mit SARS-CoV-2 leider meist nur dazu, dass verängstigte Besitzer:innen ihre hilflosen Tiere aussetzten oder an Tierheime abgaben, nachdem vereinzelte Berichte von infizierten Haustieren bekannt wurden. So tragisch es ist, dass Menschen aus Angst vorsorglich ihre Tiere verstoßen, so wichtig ist diese Beobachtung, will man eine Lehre aus der COVID-19-Pandemie für zukünftige Hygienemaßnahmen und One Health ziehen.

Dass Tiere anlasslos weggegeben wurden, beruht auf einer fatalen Fehleinschätzung des Risikos. Denn auf die Frage, ob ein Infektionsrisiko mit SARS-COV-2 durch Haustiere besteht, ließ sich auch im Einzelfall mit Sicherheit immer ganz klar mit „Nein!“ antworten. Wo sollten die Viren herkommen, wenn nicht von ihren Besitzer:innen?

Die Einzelfallberichte zeigen wiederum eindrucksvoll, dass die Antwort auf genau diese zweite Frage eindeutig beantwortet werden kann: Natürlich haben die Tiere sich bei ihren Besitzer:innen angesteckt. Unter entsprechenden Bedingungen ist COVID-19 eben kein rein menschliches Problem mehr. Zu den beobachteten Mensch-zu-Tier-Übertragungen konnte es mit hoher Wahrscheinlichkeit nur kommen, weil die Ansteckungen in einem familiären Umfeld erfolgten – wie eben auch die meisten Übertragungen von SARS-CoV-2 zwischen Menschen. Durch die unmittelbare Nähe und den engen Kontakt werden in einem solchen Umfeld Ansteckungen begünstigt.

Ausprobieren, kritisieren, optimieren: One Health

Man kann also festhalten, dass die Abstraktionsebene im allgemeinen Diskurs des Infektionsgeschehens als Beschreibung einer Übertragung der Krankheit vom Tier auf den Menschen immer noch zu eng gefasst ist. Die empfohlenen Hygienemaßnahmen schützen nämlich nicht nur einen selbst und andere Menschen, sie schützen auch unsere Tiere vor uns! One Health beschreibt eben kein Beziehungsnetzwerk, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht, und bei dem letztlich alle Wege enden – vielmehr können Wege dieses Netzwerkes von Erregern in alle Richtungen beschritten werden. Dies gilt nicht nur für SARS-CoV-2, es gilt auch für alle anderen Infektionskrankheiten.

Das fast restlose Verschwinden der Grippe in Zeiten von COVID-19 beweist anschaulich, was wir durch eine effektive Hygiene erreichen können, während der Verbleib anderer Infektionskrankheiten trotz der Maßnahmen darauf hindeutet, dass wir noch so vieles besser machen können. Erst wenn es uns gelingt, die nun begonnen Maßnahmen nach wissenschaftlicher Überprüfung ihrer Sinnhaftigkeit in unseren Alltag zu integrieren und auf unseren neuen Alltag auch eine neue Normalität folgen zu lassen, können wir wohl von einem neuen Hygienezeitalter sprechen. Tierärzt:innen kommt hierbei eine Vorreiterrolle zu: Schließlich sind sie es meist, die verunsicherten Patientenbesitzer:innen die zugegebenermaßen komplexen Zusammenhänge von One Health vermitteln. Schon diese Arbeit ist ein nicht zu verachtender Gesundheitsdienst ganz im Sinne von One Health, hilft sie doch Ängste abzubauen – denn vor Angst krank zu werden, ist wohl das letzte, was wir Menschen uns in diesen Tagen wünschen.