Gelassene Menschen, gelassene Hunde!

Sechs von zehn Menschen in Deutschland fühlen sich gestresst, mehr als zwei von zehn sogar häufig (Quelle: TK-Stressstudie/2016*). Der Hund steht für den modernen Menschen oft für das Gegenteil von Stress: für Gelassenheit, Naturverbundenheit, ein einfaches, zufriedenes Leben. Doch der Stress der Menschenwelt geht nicht spurlos an unseren Hunden vorbei – schließlich sind sie wahre Meister der Anpassung. Deshalb brauchen sie gelassene Menschen, um selbst gelassen sein zu können.

Stress, was ist das eigentlich?

Umgangssprachlich steht der Begriff für vieles. Eigentlich ist Stress jedoch eine Reaktion, mit der uns die Natur aus gutem Grund ausgestattet hat. Es handelt sich um eine psychische und körperliche Notfallreaktion, die das Überleben sichern kann. In bedrohlichen Situationen befähigt sie uns, schnell zu entscheiden, ob wir kämpfen oder fliehen müssen. Energie wird freigesetzt, die Sinne werden geschärft, nicht überlebenswichtige Funktionen zurückgefahren. Unterschieden wird zwischen zeitlich begrenztem, kontrollierbarem, aktivem Stress und unkontrollierbarem, passivem Stress.

Daueralarmbereitschaft

Bei unkontrollierbarem Stress hat das Individuum keine funktionierende Strategie parat, das Problem zu lösen. Zu den körperlichen Merkmalen kommen Gefühle von Angst und Ohnmacht. Anhaltender negativer Stress versetzt den Körper in einen Zustand der Daueralarmbereitschaft, mit der auch harmlose Situationen bedrohlich erscheinen. Hält der Stress an, hat er gravierende Auswirkungen auf den ganzen Organismus.

Kontrollierbarer Stress hingegen herrscht in Situationen, mit denen ein Mensch – Gleiches gilt für den Hund – umgehen kann. Der Erfahrungsschatz hält eine Lösungsstrategie bereit, die körperlichen Merkmale der Stressreaktion klingen ab, die Bewältigung der Herausforderung fühlt sich befriedigend und belohnend an. Damit ist also nicht jeder Stress schlecht – er kann auch beflügeln. Erfolgreich gelöste Probleme rüsten uns für die nächste Herausforderung, denn die Erfahrung stärkt dasSelbstbewusstsein. Sie kann sich sogar auf die neuronalen Strukturen im Gehirn auswirken, die verstärkt werden und beim nächsten Mal erfolgreich zur Verfügung stehen.

Purer Stress oder spannende Herausvorderung?

Ob Stress positiv oder negativ erlebt wird, hängt vom Erleben des Individuums ab – entscheidend ist die subjektive Bewertung. Was ein Stressor ist, also ein stressauslösender Reiz, kann ganz unterschiedlich sein: Ein und dieselbe Situation ist für die einen Stress pur, für andere eine spannende Herausforderung. Deshalb tun Mensch wie Hund gut daran zu lernen, möglichst flexibel mit Spannung umzugehen, die eigenen Fähigkeiten gut zu kennen und bei Bedarf auf sie zugreifen zu können, auch wenn es mal hektisch zugeht. Anders gesagt: sich in Gelassenheit und Selbstbeherrschung zu üben. Es ist die Aufgabe des Menschen, den Hund genau darin zu befähigen.

Gelassenheit fällt nicht vom Himmel – aber wir können sie lernen! Das gilt für Hunde genauso wie für Menschen."

Gülay Ücüncü, Hundetrainerin in Hamburg

Selbstbeherrschung

Selbstbeherrschung bezeichnet die Fähigkeit, einem Reiz widerstehen und die Reaktion darauf kontrollieren zu können, dafür also gar nichts oder aber etwas anderes zu tun. Stress wirkt hinderlich auf diese Fähigkeit. Sie ist Hunden im Prinzip angeboren, muss aber ein Leben lang geübt werden – und hier kommt die Erziehung durch den Menschen ins Spiel. Oft hat ein gestresster Hund einen gestressten Menschen, der neben den Anforderungen der heutigen Leistungsgesellschaft seine erzieherischen Aufgaben nur mit Mühe erfüllen kann. Erziehung bedeutet Arbeit, erfordert Geduld und einen langen Atem.

Einem gestressten Menschen fehlen häufig die Energie und die Zeit, sich tatsächlich auf den Hund einzulassen und seine Bedürfnisse zu erkennen, zum Beispiel nach Sicherheit und Struktur. Die Fähigkeit zur Gelassenheit ist das Ergebnis von Erziehung, und wenn ein gestresster Mensch nicht mehr erziehen kann, fehlt dem Hund der Rahmen, was – wenig überraschend – wiederum Stress erzeugen kann. Deshalb führt der Weg zu einem gelassenen Hund über einen Menschen ohne Stress.

Weg vom Stress, hin zur Gelassenheit

▪ Stressoren identifizieren: Was stresst den Hund?
▪ Stressoren beseitigen
▪ Verhalten: Hochschaukeln vermeiden, Eskalation verhindern
▪ Stressresistenz und Selbstbeherrschung üben, bewältigbare Herausforderungen suchen
▪ Mensch-Hund-Beziehung stärken
▪ Hund helfen, Stressoren anders zu bewerten
▪ Welche Situationen mit dem Hund empfinde ich selbst als stressig?
▪ Wieviel Stress habe ich selbst in meinem Leben?
▪ Stressoren identifizieren: Was stresst mich?
▪ ... und das Ganze wieder von vorn!

Das Buch von Gülay Ücüncü

Stress ist nur einer von diversen Faktoren, die auf die Gelassenheit wirken. In meinem Buch „Der gelassene Hund“ geht es auch um Persönlichkeit, Ruhe und Regeneration, Bewegung, Ernährung, die Welpen- und Junghundeentwicklung und Krankheiten. Ein weiteres Kapitel widmet sich der eigenen Einstellung und Haltung in Bezug auf den Hund.

Denn nicht nur beim Thema Stress halten uns unsere Hunde allzu oft einen Spiegel vor ...

TK-Stressstudie/2016*